Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
nicht toll? Hör zu, ich muß mich hinlegen. Es ist klar, wo alles ist, nicht? Kühlschrank; Fernseher; Toilette. Weck mich in einer Stunde, ja?«
    »Eine Stunde.«
    »Ich würde gerne Tee trinken, aber wir haben keine Zeit.«
    Sie sah, wie er sie anstarrte. »Drücke ich mich verständlich aus?«
    »Ja...«, antwortete er zweifelnd.
    »Nuschle ich?«
    »Ja.«
    »Dachte ich mir. O. K. Die Wohnung gehört dir. Geh nicht ans Telefon. Wir sehen uns in einer Stunde.«
    Sie stolperte ins Badezimmer, ohne auf eine weitere Bestätigung zu warten, zog sich vollständig aus, überlegte, ob sie du-schen sollte, begnügte sich dann aber mit einem Spritzer kaltes Wasser auf Gesicht, Arme und Brüste und ging weiter ins Schlafzimmer. Es war heiß in dem Zimmer, aber sie hatte Verstand genug, das Fenster nicht zu öffnen. Wenn ihr Nachbar Ron aufwachte, was etwa um diese Zeit geschah, würde er sofort Opern spielen. Entweder die Hitze im Zimmer oder Lucia di Lammermoor. Sie zog es vor zu schwitzen.

    Raul, der sich selbst überlassen blieb, fand etwas Eßbares im Kühlschrank, nahm es heraus, trug es ans offene Fenster, setzte sich und zitterte. Er konnte sich nicht erinnern, daß er jemals solche Angst gehabt hatte, bevor Fletchers Wahnsinn anfing.
    Heute wie damals hatten sich die Gesetze der Welt mit einem Mal verändert, und er wußte nicht mehr, welches Ziel er haben sollte. Er hatte im Grunde seines Herzens die Hoffnung aufgegeben, Fletcher noch einmal wiederzusehen. Der Schrein, den er in der Mission errichtet hatte und der anfangs als Fanal 481
    gedacht gewesen war, war zu einem Denkmal geworden. Er war davon ausgegangen, daß er dort sterben würde, bis zuletzt als Schwachsinniger geduldet, was er in vielerlei Hinsicht auch war. Er konnte kaum schreiben, nur seinen eigenen Namen kritzeln. Er konnte nicht lesen. Die meisten Gegenstände im Zimmer der Frau waren ihm unbegreiflich. Er war völlig verloren.
    Ein Schrei aus dem Nebenzimmer riß ihn aus dem Selbstmitleid.
    »Tesla?« rief er.
    Er bekam keine zusammenhängende Antwort - nur weitere gedämpfte Schreie. Er stand auf und folgte den Geräuschen.
    Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war zu. Er zögerte mit einer Hand auf der Klinke, weil er nicht wußte, ob er unaufgefordert eintreten sollte. Dann hörte er neue Schreie. Er stieß die Tür auf.
    Er hatte in seinem ganzen Leben noch keine nackte Frau gesehen. Der Anblick von Tesla, die auf dem Bett lag, faszinierte ihn. Sie hatte die Arme an den Seiten und hielt das Laken gepackt, ihr Kopf rollte von einer Seite auf die andere.
    Ihr Körper schien irgendwie dunstig, was ihn daran erinnerte, was auf der Straße unterhalb der Mission geschehen war. Sie ging wieder von ihm weg. Zurück zur Schleife. Ihre Schreie waren inzwischen zu einem Stöhnen geworden. Aber nicht der Lust. Sie ging unfreiwillig.
    Er rief ihren Namen noch einmal, sehr laut. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf und sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
    »Mein Gott!« sagte sie. Sie keuchte, als hätte sie gerade einen Wettlauf gemacht. »Mein Gott. Mein Gott. Mein Gott.«
    »Sie haben geschrien...«, sagte er, um seine Anwesenheit im Zimmer zu erklären.
    Erst jetzt schien ihr ihre Situation klarzuwerden: sie nackt, er verlegen und fasziniert. Sie griff nach einem Laken und wollte 482
    es über sich ziehen, aber was sie soeben erlebt hatte, lenkte sie ab.
    »Ich war dort«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    »Trinity. Kissoons Schleife.«
    Während der Rückfahrt hatte sie sich bemüht, ihm die Vision zu erklären, die sie gehabt hatte, während der Nuncio sie heilte, und zwar einerseits, um sich selbst die Einzelheiten
    einzuprägen, und andererseits, um eine Wiederholung zu vermeiden, indem sie die Erinnerung aus der versiegelten Zelle ihres Innenlebens herausholte und zu einem Erlebnis machte, das sie mit jemandem teilte. Sie hatte ein widerwärtiges Bild von Kissoon gezeichnet.
    »Haben Sie ihn gesehen?« fragte Raul.
    »Ich war nicht in der Hütte«, antwortete sie. »Aber er will, daß ich dorthinkomme. Ich kann spüren, wie er zieht.« Sie legte eine Hand auf den Bauch. »Ich spüre es in diesem Augenblick, Raul.«
    »Ich bin da«, sagte er. »Ich lasse Sie nicht gehen.«
    »Ich weiß, und ich bin froh darüber.«
    Sie streckte den Arm aus. »Nimm meine Hand, hm?« Er kam zögernd zum Bett. »Bitte«, sagte sie. Er gehorchte. »Ich habe die Stadt wiedergesehen«, fuhr sie fort. »Sie wirkt richtig echt, nur ist niemand dort. Überhaupt niemand. Sie

Weitere Kostenlose Bücher