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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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auf der Straße? Sie konnte nichts sehen. Aber die Geräusche lieferten ihr einen weiteren Hinweis. Ihre Ohren, die besser hörten als jemals zuvor, verrieten ihr, daß Insekten wuselten. Sie hörte genau hin, damit sie die Richtung erfuhr, und als sie sie erraten hatte, ging sie über die Straße zu einem anderen Haus. Es war ebenso konturlos wie die anderen Fenster, durch die sie hineingesehen hatte, aber dieses war nicht leer. Der immer stärkere Geruch und die Geräusche bestätigten diesen
    Verdacht. Hinter dieser banalen Fassade war etwas Totes.
    Viele tote Wesen, begann sie zu vermuten. Der Gestank wurde so durchdringend, daß sich ihr der Magen umdrehte. Aber sie mußte sehen, welche Geheimnisse diese Stadt verbarg.
    Auf halbem Weg über die Straße verspürte sie wieder ein Ziehen im Magen. Sie wehrte sich, aber diesesmal ließ Kissoon sie nicht so bereitwillig vom Haken. Er zog fester, und sie spürte, wie sie gegen ihren Willen die Straße hinunterglitt.
    Eben noch ging sie auf das Haus des Gestanks zu, im nächsten 488
    Moment war sie zwanzig Meter davon entfernt.
    »Ich will sehen«, sagte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und hoffte, daß Kissoon sie hören konnte.
    Doch selbst wenn, er zog weiterhin. Diesmal war sie auf den Sog vorbereitet und wehrte sich aktiv dagegen; sie forderte, daß ihr Körper sich wieder dem besagten Haus näherte.
    »Du wirst mich nicht aufhalten«, sagte sie.
    Als Antwort zog er erneut und brachte sie trotz ihrer größten Anstrengung noch weiter von ihrem Ziel weg.
    »Der Teufel soll dich holen!« schrie sie laut und wütend über seine Einmischung.
    Er benutzte ihre Wut gegen sie. Während sie mit ihrem Ausbruch Energie verbrauchte, zog er weiter, und diesmal schleifte er sie fast die ganze Straße entlang bis zum Stadtrand. Sie konnte ihm keinen Widerstand leisten. Er war schlicht und einfach stärker als sie, und je wütender sie wurde, um so fester konnte er sie packen, bis sie sich mit nicht unerheblicher Geschwindigkeit von der Stadt entfernte und erneut Opfer seiner Willkür war, so wie bei ihrem ersten Ausflug in die Schleife.
    Sie wußte, ihre Wut schwächte den Widerstand, daher ermahnte sie sich, ruhig und gelassen zu bleiben, sich zu beherrschen, während die Wüste vorübersauste.
    »Beruhige dich, Frau«, sagte sie sich. »Er ist nur ein Kraft-protz. Nicht mehr. Nicht weniger. Bleib ganz kalt.«
    Der Rat, den sie sich selbst gegeben hatte, funktionierte. Sie spürte, wie ihre innere Entschlossenheit wieder wuchs. Aber sie gönnte sich nicht den Luxus von Befriedigung. Sie machte sich die Kraft, die sie wiedererlangt hatte, einfach nur zunutze, um sich selbst etwas zu beweisen. Kissoon ließ sie
    selbstverständlich nicht los; sie spürte, wie seine Faust so stark wie eh und je in ihrem Magen zog. Es tat weh. Aber sie wehrte sich, und wehrte sich weiter, bis sie beinahe zum Stillstand gekommen war.
    489
    Immerhin eine seiner Absichten hatte er erfolgreich in die Tat umsetzen können. Die Stadt war nur noch ein Fleckchen am Horizont hinter ihr. Eine Reise dorthin zurück überstieg ihre momentanen Möglichkeiten. Sie war nicht sicher, ob sie seinem Sog über diese Strecke hinweg widerstehen konnte, selbst wenn sie es versuchte.
    Sie gab sich wieder einen stummen Rat: diesmal kurze Zeit innehalten und eine Bestandsaufnahme ihrer Situation zu machen. Den Kampf in der Stadt hatte sie verloren,
    diesbezüglich brauchte sie sich nichts vorzumachen. Aber sie konnte Kissoon ein paar peinliche Fragen stellen, wenn sie ihm schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
    Erstens, welche Ursache der Gestank tatsächlich hatte; zweitens, warum er so große Angst davor hatte, daß sie es sah.
    Aber sie wußte, sie mußte vorsichtig sein, denn welche Kraft er besaß, war selbst auf diese Entfernung nicht zu übersehen. Der größte Fehler, den sie machen konnte, war die Annahme, daß die Macht, die sie über sich selbst hatte, hier etwas Beständiges war. Sie war aufgrund von Kissoons Willen hier, und obwohl er behauptet hatte, daß er selbst Gefangener hier war, wußte er doch besser über die Grenze Bescheid als sie. Sie war jeden Augenblick seiner Macht ausgeliefert, und deren Ausmaß konnte sie nur ahnen. Sie mußte vorsichtiger sein, sonst lief sie Gefahr, das bißchen Einfluß auf ihren Zustand, das sie hatte, auch noch zu verlieren.
    Sie kehrte der Stadt den Rücken zu und setzte sich in Richtung Hütte in Bewegung. Die Festigkeit, die sie in der Stadt

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