Jenseits des Bösen
brennende Oberfläche. Als sie wieder auf den Boden sah, näherte sie sich der Stadt.
Als der erste Ansturm von Panik vorbei war, versuchte sie, die Kontrolle über ihre Lage zu erhalten, und vergegenwärtigte sich nachdrücklich, daß sie immerhin schon zum dritten Mal hier war und mittlerweile eigentlich imstande sein sollte, den Trick zu kapieren. Sie wünschte sich, daß ihre Reise langsamer vonstatten gehen sollte, und sie wurde tatsächlich langsamer, was ihr mehr Zeit gab, die Stadt zu begutachten, als sie deren Rand erreichte. Als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ihr Instinkt ihr verraten, daß die Stadt irgendwie falsch war.
Diese Ahnung wurde nun bestätigt. Die Bretter der Häuser waren nicht vom Wetter gezeichnet, nicht einmal gestrichen.
Keine Vorhänge an den Fenstern, keine Schlüssellöcher in den Türen. Und hinter den Türen und Fenstern? Sie befahl ihrem schwebenden Geist, sich einem Haus zu nähern, und sah durchs Fenster. Das Dach des Hauses war nicht fertiggestellt worden; Sonnenschein fiel durch Fugen hinein und erhellte das Innere. Es war leer. Keine Möbel, nichts sprach dafür, daß es bewohnt war. Das Innere war nicht einmal in Zimmer unterteilt. Das Gebäude war eine vollkommene Attrappe. Und das nächste wahrscheinlich auch. Sie schwebte die Häuserzeile entlang, um ihren Verdacht zu bestätigen. Auch das nächste Haus war tatsächlich völlig leer.
Als sie sich vom zweiten Fenster zurückzog, verspürte sie 486
wieder den Sog, den sie bereits in der anderen Welt erlebt hatte: Kissoon versuchte, sie zu sich zu bringen. Sie hoffte jetzt, daß Raul nicht versuchte, sie zu wecken, falls ihr Körper tatsächlich noch in der Welt war, die sie zurückgelassen hatte.
Sie hatte zwar Angst vor dem Ort und hegte heftigen Argwohn gegenüber dem Mann, der sie dorthin rief, aber ihre Neugier war ein ebenso starker Einfluß. Die Geheimnisse von Palomo Grove waren bizarr genug gewesen, aber nichts in Fletchers hastiger Weitergabe von Informationen über den Jaff, die
›Kunst‹ und Essenz konnte diesen Ort erklären. Die Antworten lagen einzig und allein bei Kissoon, daran zweifelte sie nicht.
Wenn sie zwischen den Zeilen seiner Konversation lesen konnte, so verblümt sie auch sein mochte, konnte sie vielleicht etwas verstehen. Und da sie neues Selbstvertrauen in diesem Zustand errungen hatte, nahm sie den Gedanken, zur Hütte zurückzukehren, auch nicht mehr so schwer. Wenn er sie bedrohte oder einen Steifen bekam, würde sie einfach wieder gehen. Es lag in ihrer Macht, wenn sie es sich sehnlich genug wünschte. Wenn sie in die Sonne sehen konnte, ohne geblendet zu sein, konnte sie sicherlich auch mit Kissoons linkischem Grapschen nach ihrem Körper fertig werden.
Sie machte sich auf den Weg durch die Stadt und stellte fest, daß sie plötzlich ging - oder sich zumindest entschieden hatte, sich dieser Illusion hinzugeben. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, daß sie hier war, erfolgte der Prozeß, ihr Fleisch herzubringen, beinahe automatisch. Sie konnte den Boden unter den Füßen nicht spüren, und das Gehen bereitete ihr überhaupt keine Anstrengung, aber sie brachte aus jener anderen Welt die Vorstellung mit sich, wie man sich fortbewegte, und die wendete sie nun hier an, ob es erforderlich war oder nicht.
Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich reichte ein Gedanke aus, sie in Bewegung zu versetzen. Aber je mehr von der
Wirklichkeit, welche sie am besten kannte, sie in diese Welt herüberbrachte, überlegte sie sich, desto mehr Kontrolle hatte 487
sie darüber. Sie würde hier nach den Regeln vorgehen, die sie bis vor kurzem als allgemeingültig betrachtet hatte. Wenn diese sich dann veränderten, würde sie genau wissen, daß das nicht ihr Zutun war. Je eingehender sie darüber nachdachte, desto solider fühlte sie sich. Der Schatten unter ihr wurde dunkler; sie spürte allmählich den heißen Boden unter den Füßen. So beruhigend es war, hier natürliche Sinne zu haben, Kissoon mißfiel es offenbar. Sie spürte, wie sein Sog heftiger wurde, als hätte er mit der Hand in ihren Magen gegriffen und würde ziehen.
»Schon gut...«, murmelte sie, »... ich komme. Aber wenn ich will, nicht du.«
Es gab mehr als Gewicht und Schatten in dem Dasein, das sie gerade erlernte; es gab auch Geruch und Geräusche. Beide brachten Überraschungen mit sich; beide unangenehm. Sie roch einen ekelerregenden Gestank, den sie sofort erkannte: verwesendes Fleisch. Lag hier irgendwo ein totes Tier
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