Jenseits des Bösen
mit einer einzigen raschen Bewegung des Lenkrads ein Ende zu machen. Bei allem aber war sie sich zweier Tatsachen bewußt. Einmal, daß Raul neben ihr saß und sich mit weißen Händen am Armaturenbrett festklammerte und stinkende Angst verströmte. Die andere war der Ort, den sie in ihren Nuncio-Träumen besucht hatte, Kissoons Schleife. Diese war zwar nicht ganz so real wie das Auto, in dem sie fuhr, und Rauls Geruch, aber deshalb nicht weniger beharrlich. Sie trug 478
die Erinnerung daran mit jeder Meile, die sie zurücklegten, mit sich. Trinity, so hatte er es genannt, oder Kissoon selbst wollte, daß sie zurückkehrte. Sie spürte den Sog fast wie etwas körperlich Greifbares an sich. Sie leistete ihm Widerstand, wenn auch nicht ganz aus freien Stücken. Sie war zwar froh, daß sie wieder ins Leben gebracht worden war, aber was sie in der Zeit in Trinity gesehen und gehört hatte, machte sie neugierig darauf, wieder dorthin zurückzukehren; sogar begierig darauf. Je größer ihr Widerstand war, desto
erschöpfter wurde sie, bis sie, als sie die Randbezirke von L. A.
erreichten, so müde war wie jemand, der an Schlafmangel litt; Wachträume drohten jeden Augenblick, in die Beschaffenheit der Wirklichkeit hineinzuplatzen.
»Wir müssen eine Weile Rast machen«, sagte sie zu Raul und merkte, daß die Worte genuschelt waren. »Sonst werde ich uns noch beide umbringen.«
»Möchten Sie schlafen?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, weil sie befürchtete, der Schlaf würde ebenso viele Probleme aufwerfen, wie er lösen könnte.
»Wenigstens ausruhen. Kaffee trinken und meine Gedanken ordnen.«
»Hier?« sagte Raul.
»Was hier?«
»Halten wir hier?«
»Nein«, sagte sie. »Wir fahren zu meiner Wohnung. Das ist eine halbe Stunde von hier. Das heißt, wenn wir fliegen...«
Das machst du doch schon, Baby, sagte ihr Verstand, und möglicherweise wirst du nie wieder aufhören. Du bist die wie-derauferstandene Frau. Was erwartest du? Daß das Leben einfach weitergeht, als wäre nichts gewesen? Vergiß es. Nichts wird je wieder wie früher sein.
Aber West Hollywood hatte sich nicht verändert; immer noch die verschönerte Boy's Town: die Bars, die
Modegeschäfte, wo sie ihren Schmuck kaufte. Sie fuhr vom 479
Santa Monica links raus auf den North Huntley Drive, wo sie seit fünf Jahren lebte, seit sie in L. A. war. Es war fast Mittag, und der Smog brannte über der Stadt. Sie parkte das Auto in der Tiefgarage des Hauses und fuhr mit Raul hoch zum
Apartment V. Die Fenster ihres Nachbarn direkt darunter, eines sauertöpfischen, unterdrückten kleinen Mannes, mit dem sie in fünf Jahren nicht mehr als drei Sätze gesprochen hatte, zwei davon Beschimpfungen, waren offen, und er sah sie zweifellos vorübergehen. Sie schätzte, daß er höchstens zwanzig Minuten brauchen würde, um den ganzen Block davon in Kenntnis zu setzen, daß Miß Lonelyhearts, wie sie hinter ihrem Rücken genannt wurde, wieder in der Stadt war, zum Kotzen aussah und Quasimodo bei sich hatte. Nun gut. Sie mußte sich um andere Dinge Gedanken machen, zum Beispiel, wie sie den Schlüssel ins Türschloß stecken konnte, ein Trick, der ihre bedrängten Sinne mehrmals überforderte. Raul kam ihr zu Hilffe, nahm den Schlüssel aus ihren zitternden Fingern und schloß für sie beide auf. Das Apartment war, wie üblich, ein Katastrophengebiet. Sie ließ die Tür offenstehen und riß die Fenster auf, um ein wenig nicht ganz so abgestandene Luft hereinzulassen, dann hörte sie den Anrufbeantworter ab. Ihr Agent hatte zweimal angerufen, beide Male, um ihr zu sagen, daß sich bezüglich ihres Drehbuchs über die Schiffbrüchigen nichts Neues ergeben hatte; Saralyn hatte angerufen und fragte an, ob sie wußte, wo Grillo steckte. Nach Saralyn: Teslas Mutter. Ihre Nachricht war mehr eine Litanei von Sünden als eine Botschaft - Verbrechen, die die Welt im allgemeinen und ihr Vater im speziellen begangen hatten. Schließlich eine Nachricht von Mickey de Falco, der sich zusätzliches Geld verdiente, indem er für Fickfilme stöhnte und grunzte und eine Partnerin für eine Session brauchte. Im Hintergrund ein bellender Hund. »Und sobald du wieder da bist«, sagte er abschließend, »komm her und hol den verdammten Hund
wieder ab, bevor er mich arm frißt.« Sie sah Raul, der ihr 480
zusah, wie sie die Nachrichten abhörte, und sein Unverständnis war nur allzu offenkundig.
»Meine Mitmenschen«, sagte sie, nachdem Mickey sich
verabschiedet hatte. »Sind sie
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