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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gehabt. Es war Unsinn. Und wenn das Unsinn war, was dann noch, was man ihr beigebracht hatte?
    Weil sie ihre Verwirrung gedanklich nicht bewältigen konnte und auch zu müde war, es nachdrücklich zu versuchen, ging sie in ihr Zimmer und legte sich hin. So kurz nach dem Trauma ihres letzten Schlummers wollte sie nicht schlafen, aber die Müdigkeit überwand ihren Widerstand. Eine Folge
    perlmuttartig schimmernder Schwarzweißbilder spulte sich vor ihrem inneren Auge ab: Howie im Butrick's; Howie vor dem Einkaufszentrum, von Angesicht zu Angesicht mit Tommy-Ray; sein Gesicht auf dem Kissen, als sie ihn für tot gehalten hatte. Dann riß die Kette, und die Perlen stoben davon. Sie schlief ein.
    Als sie aufgewacht war, zeigte die Uhr acht Uhr fünfundvierzig. Es war vollkommen still im Haus. Sie stand auf und bewegte sich so leise es ging, um Mamas Aufmerksamkeit zu entgehen. Unten machte sie sich ein Sandwich und ging wieder hinauf in ihr Zimmer, wo sie jetzt - nachdem das Sandwich gegessen war - einfach dalag und zusah, wie der Wind mit den Vorhängen spielte.
    Das Abendrot war so sanft wie Aprikosencreme gewesen, aber jetzt war es verschwunden. Die Dunkelheit stand kurz bevor. Sie konnte spüren, wie sie näherkroch - Entfernungen auslöschte, das Leben zum Verstummen brachte -, und das beunruhigte sie wie niemals zuvor. In Häusern, die gar nicht so weit entfernt waren, trauerten Familien. Ehefrauen ohne Männer und Kinder ohne Väter sahen der ersten Nacht der Trauer entgegen. In anderen wurde Traurigkeit, die verdrängt worden war, wieder ans Licht geholt, studiert, beweint. Jetzt hatte sie auch etwas, das sie zum Teil der umfassenden Trauer machte. Sie hatte Verlust erlebt, und die Dunkelheit - die soviel von der Welt fortnahm und so wenig zurückgab - würde nie 210
    wieder so wie früher sein.

    Tommy-Ray wurde geweckt, weil das Fenster klapperte. Er richtete sich im Bett auf. Er hatte den Tag in seinem selbsterzeugten Fieber verbracht.
    Der Morgen schien noch mehr als zwölf Stunden entfernt zu sein, aber was hatte er in der inzwischen verstrichenen Zeit gemacht? Geschlafen, geschwitzt und auf ein Zeichen
    gewartet.
    War es das, was er jetzt hörte; das Klappern des Fensters, gleich den Zähnen eines sterbenden Mannes? Er schlug die Decke zurück! Irgendwann einmal hatte er sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Der Körper, den er im Spiegel sah, war straff und glänzend, wie eine gesunde Schlange. Er stolperte, weil er von Bewunderung abgelenkt war, und als er
    aufzustehen versuchte, wurde ihm klar, daß er jegliche Orientierung in dem Zimmer verloren hatte. Das Zimmer war ihm plötzlich fremd - und er dem Zimmer. Der Boden war geneigt wie niemals zuvor, der Schrank zur Größe eines Koffers geschrumpft - oder aber er, Tommy-Ray, war grotesk groß geworden. Er tastete, von Übelkeit ergriffen, nach etwas Festem, um sich zu orientieren. Er wollte zur Tür, aber entweder seine Hand selbst oder das Zimmer machte diese Absicht zunichte, und er bekam statt dessen den Fensterrahmen zu fassen. Er stand still und hielt sich an dem Holz fest, bis das Schwindelgefühl nachließ. Während er wartete, spürte er, wie sich das kaum wahrnehmbare Vibrieren des Rahmens durch die Fingerknochen zu den Handgelenken, in die Arme und durch die Schultern bis zur Wirbelsäule fortpflanzte. Es war ein kribbelnder Tanz in seinem Mark, der keinen Sinn ergab, bis er die letzten Halswirbel erklommen hatte und den Schädel erreichte. Dort wurde die Bewegung, die ein Klirren im Glas gewesen war, wieder zu einem Ton: eine Folge von Klicken und Rasseln, die ihn rief.
    Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er ließ den Fensterrahmen los und wandte sich benommen zur Tür. Er trat die Laken, 211
    die er im Schlaf zerwühlt hatte, mit den Füßen beiseite. Er hob T-Shirt und Jeans auf, weil er am Rande daran dachte, daß er sich anziehen sollte, bevor er das Haus verließ; aber er schleifte seine Kleidung lediglich hinter sich her, während er die Treppe hinunterging und durch die Schwärze hinter das Haus trat.
    Der Garten war groß und chaotisch, da sich viele Jahre niemand mehr um ihn gekümmert hatte. Der Zaun war schadhaft, die Sträucher, die gepflanzt worden waren, um den Garten von der Straße her abzuschirmen, waren zu einer dichten Mauer der Vegetation geworden. Auf diesen kleinen Dschungel ging er jetzt zu, weil ihn der Geigerzähler in seinem Kopf, dessen Ticken mit jedem Schritt lauter wurde, dorthin zog.

    Jo-Beth erhob sich

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