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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sie.
    »Nicht ich«, sagte Tommy-Ray. »Der Jaff. Er ruft dich.«
    »Jo-Beth.«
    217
    »Wo ist er?«
    Tommy-Ray deutete zu den Bäumen. Plötzlich schienen sie sehr weit vom Haus entfernt zu sein, fast am Ende des Gartens.
    Sie war nicht sicher, wie sie so schnell so weit gekommen war, aber der Wind, der mit den Vorhängen gespielt hatte, hielt sie nun in seinem Bann und drängte sie, so schien es, in Richtung des Dickichts. Tommy-Ray ließ ihre Hand los.
    Geh, hörte sie ihn sagen, darauf haben wir so lange gewartet...
    Sie zögerte. Die Art, wie sich die Bäume bewegten, wie die Blätter bebten, erinnerte sie an schlimme Anblicke: möglicherweise eine Pilzwolke; oder Blut in Wasser. Aber die Stimme, die sie lockte, war tief und beruhigend, und das Gesicht, das sprach - und jetzt sichtbar war - rührte sie zutiefst. Wenn sie einen Mann Vater nennen wollte, wäre dieser hier eine gute Wahl. Sie mochte seinen Bart und die düstere Stirn. Sie mochte, wie seine Lippen die Worte, die er aussprach, mit äußerster Präzision formten.
    »Ich bin der Jaff«, sagte er. »Dein Vater.«
    »Tatsächlich?« sagte sie.
    »Tatsächlich.«
    »Warum bist du gekommen? Nach so langer Zeit?«
    »Komm näher. Ich sage es dir.«
    Sie wollte einen Schritt näher kommen, als sie einen Schrei vom Haus hörte.
    »Laß dich nicht von ihm berühren!«
    Es war Mama, die mit einer Lautstärke schrie, deren Jo-Beth sie nie für fähig gehalten hätte. Der Schrei bannte sie auf der Stelle. Sie drehte sich auf dem Absatz herum. Tommy-Ray stand direkt hinter ihr. Und hinter ihm kam Mama mit
    aufgeknöpftem Nachthemd und barfuß näher.
    »Jo-Beth, komm da weg!« sagte sie.
    »Mama?«
    »Komm weg!«
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    Es war fast fünf Jahre her, seit Mama zum letztenmal das Haus verlassen hatte; sie hatte während dieser Zeit mehr als einmal gesagt, daß sie es nie wieder verlassen würde. Und doch war sie da, mit erschrockenem Gesichtsausdruck, und ihre Schreie waren keine Bitten, sondern Befehle.
    »Kommt da weg, alle beide!«
    Tommy-Ray drehte sich zu seiner Mutter um. »Geh ins
    Haus«, sagte er. »Das hat nichts mit dir zu tun.«
    Mama ging langsamer.
    »Du weißt es nicht, mein Sohn«, sagte sie. »Du kannst es nicht einmal ansatzweise verstehen.«
    »Das ist unser Vater«, antwortete Tommy-Ray. »Er ist nach Hause gekommen. Du solltest dankbar sein.«
    »Dafür?« sagte Mama mit weit aufgerissenen Augen. »Das hat mir das Herz gebrochen. Und es wird auch euch das Herz brechen, wenn ihr es zulaßt.« Sie stand jetzt einen Meter von Tommy entfernt. »Laß es nicht zu«, sagte sie sanft und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu streicheln. »Laß nicht zu, daß er uns weh tut.«
    Tommy-Ray schlug Mamas Hand weg.
    »Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Das hat nichts mit dir zu tun.«
    Mama reagierte sofort; sie ging einen Schritt auf Tommy-Ray zu und schlug ihm ins Gesicht; es war ein Schlag mit der offenen Hand, der zum Haus hallte.
    »Dummkopf!« schrie sie ihn an. »Erkennst du das Böse denn nicht, wenn du es siehst?«
    »Ich erkenne eine verdammte Wahnsinnige, wenn ich sie sehe«, schrie Tommy-Ray zurück. »Deine Gebete und das Geschwätz vom Teufel... du machst mich krank! Du versuchst, mein Leben zu verderben. Und jetzt willst du auch das verderben. Vergiß es. Papa ist heimgekommen. Leck mich!«
    Sein Ausbruch schien den Mann unter den Bäumen zu
    amüsieren; Jo-Beth hörte ihn lachen. Sie sah sich um. Er hatte 219
    offenbar nicht damit gerechnet, daß sie sich umdrehen würde, denn er hatte die Maske, die er trug, ein wenig verrutschen lassen. Das Gesicht, das ihr so väterlich erschienen war, war aufgedunsen; Augen und Stirn waren größer; das bärtige Kinn und der Mund, die ihr so gefallen hatten, beinahe verkümmert.
    Wo ihr Vater gewesen war, war jetzt ein monströses Baby. Sie schrie auf, als sie es sah. Das Dickicht um ihn herum brach sofort in hektische Aktivität aus. Die Zweige schlugen wie Flagellanten nacheinander, streiften Rinde ab und schüttelten Laub von sich; ihre Bewegungen waren so heftig. Sie war sicher, daß sie die Wurzeln aus dem Boden reißen und auf sie zukommen würden.
    »Mama!« sagte sie und drehte sich wieder zum Haus um.
    »Wohin gehst du?« sagte Tommy-Ray.
    »Das ist nicht unser Vater!« sagte sie. »Es ist ein Trick! Sieh doch! Ein schrecklicher Trick!«
    Tommy-Ray wußte es entweder und wollte es nicht wahr-
    haben, oder er stand so sehr unter dem Einfluß des Jaff, daß er nur sah, was ihn der Jaff sehen

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