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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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von unseren Unterdrückern erlöst werden. Und dann soll das Böse offenbart werden, welches der Herr mit dem Odem seines Mundes verzehren und mit dem Licht seiner Ankunft vernichten wird...«
    »Ich sehe kein Licht hier, Mama. Ich glaube, ich habe noch nie eines gesehen.«
    »Es wird kommen«, beharrte Mama. »Alles wird klar und deutlich werden.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Jo-Beth. Sie dachte an
    Tommy-Ray, der gestern nacht spät ins Haus zurückgekehrt war und sein unschuldiges Lächeln gelächelt hatte, als sie ihn nach dem Jaff fragte, als wäre überhaupt nichts geschehen.
    War er jetzt einer der Bösen, für deren Vernichtung Mama gerade so inbrünstig betete? Würde der Herr ihn mit dem Odem seines Mundes verzehren? Sie hoffte nicht. Tatsächlich betete sie sogar, daß es nicht so kommen würde, als sie und 253
    Mama niederknieten, um mit Gott zu sprechen; sie betete, der Herr möge nicht zu hart über Tommy-Ray richten. Und auch nicht über sie, weil sie dem Gesicht auf der Schwelle hinaus in die Sonne und wo immer es auch hinging folgen wollte.

    2

    Obwohl der Tag heftig auf den Wald herniederprasselte, war die Atmosphäre unter seinem Baldachin die eines Ortes im Banne der Nacht. Welche Tiere und Vögel auch immer hier hausen mochten, sie blieben in ihren Baus und Nestern. Licht oder etwas, das im Licht lebte, hatte sie zum Schweigen gebracht. Howie spürte ihre abschätzenden Blicke dennoch. Sie behielten jeden seiner Schritte im Auge, als wäre er ein Jäger, der unter einem zu grellen Mond zu ihnen kam. Er war hier nicht erwünscht. Und dennoch wuchs der Drang, weiter
    voranzugehen, mit jedem Schritt, den er machte. Am Tag zuvor hatte ihn ein Flüstern hierher geführt; ein Flüstern, das er später als Streich seines benommenen Verstandes abgetan hatte.
    Heute zweifelte keine Zelle seines Körpers mehr daran, daß der Ruf echt gewesen war. Es war jemand hier, der ihn sehen wollte; ihm begegnen wollte; ihn kennenlernen wollte. Gestern hatte er sich dem Ruf widersetzt. Das würde er heute nicht tun.
    Eine Laune, die nicht ganz seine eigene war, verleitete ihn dazu, beim Gehen den Kopf zurückzulegen, so daß die Sonne, die das Laub durchbohrte, wie ein Schlag Tageslicht auf sein Gesicht fiel. Er zuckte nicht vor dem Leuchten zurück, sondern machte die Augen nur noch weiter auf. Die Helligkeit und der Rhythmus, mit dem es in seine Netzhäute drang, hypnotisierten ihn. Es mißfiel ihm, die Kontrolle über seine geistigen Vorgänge aufzugeben. Er trank nur, wenn er von seinen Freunden dazu genötigt wurde, und hörte sofort auf, wenn er spürte, wie seine Herrschaft über die Maschine nachließ; 254
    Drogen waren völlig undenkbar. Aber diese Vergiftung hieß er willkommen; er lud die Sonne förmlich ein, die Wirklichkeit wegzusengen.
    Es klappte. Als er die Szene um sich herum wieder
    betrachtete, war er halb geblendet von Farben, wie sie kein Grashalm für sich beanspruchen konnte. Sein geistiges Auge beeilte sich geflissentlich, den Raum auszufüllen, den das Tatsächliche freigegeben hatte. Mit einemmal füllte sich sein Sehbereich und wuselte und quoll über von Bildern, die er aus einem unkartographierten Ort seines Kortex geholt haben mußte, denn er konnte sich nicht erinnern, daß er sie selbst erlebt hatte.
    Er sah ein Fenster vor sich, das ebenso solide - nein, solider -
    wie die Bäume war, zwischen denen er dahinwanderte. Es war offen, das Fenster, und man konnte Meer und Himmel dahinter sehen.
    Diese Vision wich einer anderen, nicht ganz so friedlichen.
    Feuer loderten rings um ihn herum, in denen Bücherseiten zu brennen schienen. Er schritt furchtlos durch das Feuer, weil er wußte, diese Visionen konnten ihm keinen Schaden zufügen, und er wollte noch mehr davon.
    Eine dritte, noch seltsamere als die vorangegangenen, wurde ihm gewährt. Noch während die Feuer ringsum erloschen, tauchten Fische aus den Farben in seinen Augen heraus auf und schossen wie Regenbögen voraus.
    Er mußte lachen, so bizarr war der Anblick, und sein Lachen löste ein weiteres Wunder aus, denn die drei Halluzinationen verschmolzen, bezogen den Wald, in dem er ging, in ihr Muster mit ein, bis Feuer, Fische, Himmel, Meer und Bäume ein einziges gleißendes Mosaik wurden.
    Die Fische schwammen mit Feuer als Flossen. Der Himmel wurde grün und schleuderte Seesternblüten herab. Das Gras wogte wie die Flut unter seinen Füßen; oder besser gesagt, unter dem Verstand, der die Füße sah, denn Füße waren

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