Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
gesessen hatten oder nicht. Meist hatte er wenigstens einen Akt von ihnen gezeichnet, bisweilen ohne ihr Wissen, ganz aus der Phantasie. Ganz aus der Phantasie hatte er auch das Mädchen gemalt, das in seinen Gedanken wohnte.
Doch letzte Nacht war sie real gewesen. Er spürte noch ihren zitternden Körper, wie er sich klein und zierlich, beinahe zu dünn, an ihn geschmiegt hatte. In der halben Sekunde, in der sie seine Hilfe erbeten hatte, hatte sich seine Beziehung zu dem Bild, das sie war, für immer geändert. Ihr Leben hatte er in seinen Händen gehalten, warmes, junges Leben. Fast war es ihm, als hätte er ihren wilden Herzschlag vernehmen können, ihre Furcht war beinahe physisch zu greifen gewesen. Einen einzigen Augenblick lang war sie Wirklichkeit geworden, hatte ihre Position in seinem Herzen manifestiert, ihre körperliche Existenz an seinem Körper bewiesen, und schon war sie wieder verschwunden. Nichts war geblieben als der Schrecken und das Wissen, dass er sie verloren hatte.
So zu denken war unvernünftig, fast schon wahnwitzig. Doch sein Leben hatte die schmalen Pfade der Vernunft verlassen. Sohn eines Vampirs. Nachkomme eines Spuks. Abendessen eines Monsters.
Seine Mutter hatte etwas Unaussprechliches getan. Seine lächelnde, wohlanständige Mutter hatte sich einem Blut trinkenden Feyon hingegeben, und das nicht nur einmal. Sie hatte ihren Gatten betrogen, um ein unnatürliches Kind zu empfangen, bewusst, gewollt, absichtlich.
Sein Hass gegen sie flammte mit entsetzlicher Plötzlichkeit auf. Sie war schuld. Sie hatte jede Grenze nicht nur des Anstandes, sondern jeder menschlichen Moral übertreten. Er fühlte sich verraten. All die Streitereien und Diskussionen, die er wegen seines allzu freien Betragens und seiner Zügellosigkeit in Sachen Liebschaften mit ihr gehabt hatte, kamen ihm wieder ins Gedächtnis. Wie hatte sie es je wagen können, ihn auch nur zu kritisieren? Er hatte seinen Spaß ausgelebt, das stimmte, aber er hatte immerhin keine ... kein ... selbst dafür fehlten ihm die Worte.
Es machte ihn zornig.
Was er für den dunklen Grafen empfand, wusste er nicht. Vielleicht eine Art entsetzten Abscheus vermischt mit Resten kritischen Unglaubens. Doch auch Dankbarkeit war darunter – ebenso wie Undankbarkeit, denn einem solchen Wesen wollte er bei Gott nichts schulden. Doch eine größere Schuld als die, sein Leben gerettet zu bekommen, gab es nicht. Sein Vater hätte für ihn gegen die Riesenspinne gekämpft. Er sah zumindest nicht so aus, als ständen seine Chancen bei einem solchen Kampf besser als die Thorolfs, doch der äußere Anschein mochte trügen. „Ich würde einen Kampf um das Leben meines eigenen Sohnes nicht verlieren“, hatte er dem Ungeheuer gesagt, und er hatte sich so angehört, als wäre er sich seiner Sache sicher.
Die Reaktion der Spinne hatte zumindest angedeutet, dass auch sie den Ausgang der Schlacht nicht anzweifelte. Vielleicht hatte sie aber auch nur aufgegeben, weil ein Kampf mit einem „Vetter“ allzu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Doch es gab noch Beute in der Nähe zu jagen: das Mädchen.
Thorolf hatte sein Fahrrad erreicht und schob es auf die Neuhauser Straße, die selbst am späten Nachmittag belebt war. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Die Sonne schien noch, ließ die Gebäude in goldenem Licht erstrahlen. Bald brach der Wonnemonat Mai an, der Monat der Liebenden. Vielleicht sollte Thorolf eine Affäre beginnen, um seine Gedanken von den derzeitigen Problemen abzulenken und seinem Körper etwas anderes zu fühlen geben als die Erinnerung an handlange Krallen, die sich in sein Fleisch bohrten.
Gewiss gab es hübsche Mädchen in München. Vermutlich gab es sogar richtig viele.
Er wandte der Akademie den Rücken zu. Früher hatte das Gebäude den Jesuiten gehört, war ein Kloster gewesen. Doch fünfzig Jahren zuvor hatte das bayerische Königreich der katholischen Kirche beinahe alle ihre Güter abgenommen und verstaatlicht, Gebäude und Ländereien.
So tummelten sich in dem eindrucksvollen Gebäude gleich neben der Michaelskirche nun Künstler, deren Lebensstil und Moralauffassung sich von denen der Vorbesitzer nicht grundlegender hätte unterscheiden können. In Österreich, Thorolfs Heimat, wäre so etwas undenkbar gewesen. Die katholische Kirche hatte dort viel zu großen Einfluss. Doch Bayern hatte es Anfang des Jahrhunderts eine Weile mit Napoleon gehalten und erst die Seiten gewechselt, als klar wurde, dass der korsische
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