Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Ländern, in denen sie diskret ihre Dienste anboten und mit zum Netzwerk an Information und Unterstützung beitrugen.
Natürlich gab es auch „Unabhängige“. Auf sie sah man herab, manche waren wenig mehr als Betrüger, manche hatten ihre Ausbildung abgebrochen oder schließlich nur noch ihre eigenen Ziele verfolgt. Man ließ sie gewähren, solange sie keinen Schaden anrichteten oder dem Ruf der Loge abträglich waren. Diese Außenseiter lebten nicht schlecht, denn oft genug zogen Klienten einen einzelnen Spezialisten vor, um zu verhindern, dass bestimmte Dinge Logenwissen wurden.
Ian saß an einem Tisch in dem gemütlich eingerichteten Speisesaal und arbeitete sich gewissenhaft durch eine zweite Portion Nachtisch. Er hatte sich in eine Ecke verzogen, in der Hoffnung, dass man ihn dort übersah. Bislang hatte ihn auch keiner gestört. Niemand hatte ihm irgendwelche unangenehmen Fragen gestellt, und er hatte sorgfältig Begegnungen mit Großmeister Urqhart und Meister Valerios vermieden sowie auch jedwede Bücher über weibliche Körperteile.
Die Stimmung unter den gelehrten Herren war trotz allem ein wenig unberechenbar. Die Nervosität der Einzelnen schien sich in der engen Gemeinschaft des Speisesaales noch zu vervielfachen. Alle waren müde und überarbeitet.
Neue Komafälle hatte es nicht gegeben. Doch die vier Betroffenen zeigten keine Tendenz aufzuwachen. Ein Arzt kam täglich, um nach ihnen zu sehen, und eine Pflegerin war engagiert worden, um sich um die Bedürfnisse der Kranken zu kümmern. Die nicht mehr junge Frau brachte die rein männliche Gesellschaft völlig in Unordnung, obgleich sie weder auffällig, noch aufdringlich war. Doch sie passte so gar nicht ins Umfeld, und ihre Anwesenheit machte alle noch vorsichtiger. Hübsch war sie nicht und weder laut noch taktlos, doch in der eingeschworenen Männergilde war sie so sehr ein Fremdkörper, dass die introvertierteren Logenbrüder sich nachgerade verfolgt fühlten.
„Unsere Brüder benehmen sich wie alte Jungfern in einem Damenstift, nicht wahr? Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte Douglas Sutton und setzte sich an Ians Tisch, ohne eine Antwort abzuwarten. „Sie glucken zusammen wie Hennen auf einem Hühnerhof, die die Nachbarsgans diskutieren und dabei den Fuchs übersehen.“
Ian lachte. Er mochte die unkomplizierte, gerade Art des Amerikaners, auch wenn sich viele der Brüder von seinem wenig zurückhaltenden Benehmen irritiert fühlten.
„Ich bin nur froh – um ihretwillen“, fuhr der Herr aus Übersee fort, „dass die gute Frau hässlich und uninteressant aussieht und beim Gehen hin und her wackelt. Stellen Sie sich nur vor, sie wäre hübsch und jung. Da hätten wir inzwischen doppelt so viele Komapatienten.“
Ian grinste.
„Das würde bedeuten, dass wir mindestens noch eine Pflegerin anstellen müssten.“
„Dann würde die Opferzahl ins Uferlose steigen.“
Ian schmunzelte und sah in das offene Gesicht des Adepten. Seine Augen waren von Lachfalten umgeben, die verrieten, dass er selbst den langweiligsten und ernstesten Aspekten des Lebens noch etwas Amüsantes abgewinnen konnte. Er war gut fünfzehn Jahre älter als Ian, sein dunkles Haar hing in viel zu langen Locken herunter, und die undurchdringliche Matte eines sorgfältigst ungetrimmten Barts bedeckte sein Gesicht und gab ihm alles in allem einen Hauch von Wildem Westen und Abenteuer.
Tatsächlich war sein Hintergrund anders als üblich. Er war im wildesten Teil des Wilden Westens aufgewachsen und suchte nun seine Abenteuer in der Zivilisation des alten Europa. Sein arkanes Talent hatte ihn hierher verschlagen, und seine Überzeugung, dass die Zivilisation sich von der Wildnis im Grunde nicht sehr unterschied, brachte ihm nicht nur Freunde ein. „Die Menschen sind ziemlich überall gleich, egal ob Wigwam oder Schloß“, sagte er gerne, ganz besonders zu jenen, die auf ihre untadelige Abstammung besonders stolz waren und ihm gewiss nicht recht gaben. „Menschen gehen mit neuen Dingen überall gleich um. Sie fragen sich: a) Ist es gefährlich? b) Kann man damit Geld machen? Und, wenn beides nicht zutrifft, c) kann man es essen oder macht es sonst wie Spaß?“
„Fertig mit dem Mittagessen?“, fragte er nun Ian.
„Ja.“
„Gut. Dann machen wir einen Spaziergang.“
Ian sah ihn überrascht an. Es war durchaus unüblich, dass ein Adept sich näher mit einem Primaner befasste. Es war nicht so, dass sie nicht miteinander sprachen, doch das Wissen, das der
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