Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
winzigen Rest Hoffnung festkrallte, lag nur daran, dass sie in ihrem Leben so viele absonderliche und unerklärliche Dinge erlebt hatte.
Außerdem war er Arpads Nachkomme.
Die Totenfrau hatte sie für ihre Wahl getadelt, und sie hatte recht. Doch Sophie wusste, dass sie in der gleichen Situation sich immer wieder gleich entscheiden würde. Thorolf hatte ihr Leben mit Freude erfüllt. Ihn anzusehen hatte es erträglich gemacht zu wissen, dass sie den Mann, den sie liebte, für immer verlassen hatte. Ihren Sohn zu lieben war so einfach gewesen. Ihn zu verlieren war wie selbst zu sterben.
Die Alte hatte ein Fuhrwerk organisiert. Auf einer Bahre hatten zwei Gefängniswärter die leblose Gestalt zu dem Vehikel getragen. Eine Decke war über Thorolfs schönes Gesicht gezogen. Ernst und still sah er aus, bleich wie Marmor und schrecklich, schrecklich tot. Wie ein Grabsteinornament. Sophie hatte geweint. Aus Angst hatte sie geweint und aus Anspannung, aber auch aus Scham.
In der Zelle hatte der Bruderschaftspriester sie knien und beten geheißen. Das musste sie nicht spielen. Sie musste auch das Grauen und die Trauer nicht spielen. Der Priester hatte sie gesegnet, und der Segen hatte beinahe ein Loch in ihre Seele gebrannt. Sie hatte geschrien, als der Mönch plötzlich eine eisengraue Klinge in der Hand hielt und damit das Herz des Leichnams auf der Bahre durchbohren wollte. Sie wusste, warum er das vorhatte. Als Test. Um sicherzugehen. Kalteisen gegen die Sí. Allein ihr Wissen darum würde auch sie dem Untergang weihen, und Charly ebenfalls.
Sie hätte dem Gefängniswärter am liebsten die Hände geküsst, als er eine solche Leichenschändung untersagte. Unzivilisiert hatte er es geheißen. Gegen die Schändung von Leichen habe er etwas, sagte er, wenn sie nicht im Dienste der Wissenschaft erfolgte, und dass er sich sehr sicher wäre, dass die „fromme Prozedur“ ganz sicher die medizinische Wissenschaft dieses Landes keinen Deut weiterbringe. So verschwand der Dolch ungenutzt wieder in der Kutte des Mönches. Sophie sprach ein Vaterunser für die Sturheit aufrechter bayerischer Beamter. Gott behüte und beschütze die Eigenwilligkeit des Mannes und ihn selbst – ebenso wie alle anderen Anwesenden – vor den Widerlichkeiten von Irrsinnigen und Fanatikern.
Sie war selbst fast wahnsinnig vor Angst, die Männer würden herausfinden, dass Thorolf anders war. Doch sie stellten nur eines fest – dass er tot war. Verschieden. Entleibt.
Nun hatte sie noch mehr Angst, dass die beiden Spezialisten für das Übernatürliche recht behielten und die unzusammenhängenden Worte jener Frau nichts weiter waren als das wirre Gestammel eines alten Weibes. In der Tat dachte sie genau das fast die ganze Zeit, dachte es zunehmend öfter und wurde sich dessen immer sicherer. Etwas anderes war auch nicht denkbar. Die Hoffnung starb immer zuletzt, hieß es, aber sie starb, und was starb, war tot.
Er war tot.
Es war undenkbar, dass die Bruderschaft sich irrte. Genauso undenkbar war es zu glauben, ein Toter würde wiederauferstehen, nur weil eine Fremde in einem Nebensatz so etwas angedeutet haben mochte. Thorolf war sterblich, und Sterbliche starben.
Sie saß mit auf dem Kutschbock des Fuhrwerks. Der Kutscher war ein schweigsamer alter Kauz.
„Zum Friedhof?“, hatte er gefragt.
„Erst heim.“
„Ah. Leichenfeier. Gut. Schade, dass die Starkbierzeit schon um ist. Ist im Gefängnis gestorben, oder? Was hat er denn angestellt?“
Sie hasste es, ihm antworten zu müssen, doch sie tat es.
„Er war unschuldig.“
Die Bruderschaft hatte das bestätigt. Er war tot, mit unterschriebenem Totenschein und gesiegelt. Also war er unschuldig. Hätte er gelebt, hätten sie ihn umgebracht, weil er nicht unschuldig gewesen wäre. Schuldig hätte ihn das nicht gemacht. Nur getötet. Das Ergebnis wäre exakt dasselbe gewesen.
Sie verstand die Logik nicht und versuchte es auch nicht. Ihre Gedanken waren zu wirr, um die verdrehten Gedankengebäude von Menschen zu begreifen, die nichts als hasserfüllte Eiferer waren ohne jeden Respekt vor dem Leben.
Den Tod allerdings achteten sie. Sie wussten, wenn jemand tot war. Da gab es keinen Zweifel.
Die Kirchenmänner hatten ihr zugesichert, seinen Namen von falscher Schuld reinzuwaschen – wenn auch nur posthum. Sie wiesen sie an zu beten und empfahlen eine Wallfahrt zur schwarzen Madonna von Altötting sowie einen guten Zweck, an den sie im Namen des Toten ein Geldopfer spenden sollte: an sie.
Weitere Kostenlose Bücher