Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
sich verstecken konnte. Die Nacht und die Entfernung zum Boden, ihr Gewissen und ihre Verwirrung ließen sie zittern. Dennoch fühlte sie sich fast sicher, wie in eine undurchlässige Decke gehüllt. Das Gefühl war unheimlich.
Das nächste Fenster war nicht weit entfernt, und nun konnte sie Stimmen hören.
„Deine Aufgabe ist es, das Kind zu kontrollieren“, hörte sie Lucillas Stimme. „Du weißt, wie wichtig und notwendig das ist. Dafür bist du hier. Aus keinem anderen Grund.“
„Ich tue, was ich kann. Auf meine Weise.“
„Ich werde nicht zulassen, dass sie den ganzen Haushalt rebellisch macht. Lybratte ist ein vielbeschäftigter, wichtiger Mann. Ein brillanter Mann. Er braucht seinen Schlaf. Es ist wichtig, dass er … bei Kräften bleibt. Er ist kein Jüngling mehr, und das Letzte, das ich will, ist, dass er sich um das Kind Sorgen macht und damit abgelenkt wird. Je weniger er an sie denkt, desto besser.“
„Sie hat sich heute sehr aufgeregt. Ich habe es dir doch berichtet, meine liebe … Frau Lybratte.“ Die Stimme klang sanft, doch keineswegs so servil wie sonst. Ein unzufriedener Unterton schwang darin mit, ließ die Gouvernante eher gereizt denn respektvoll erscheinen. Mitten in der Nacht geweckt zu werden hatte die Laune der Lehrerin offensichtlich nicht verbessert. Auch duzten sich die beiden Frauen sonst nie. Seltsam.
„Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, dass wir das Klavier in den Salon gebracht haben, damit es dort für die Jours fixes bereitsteht? Das hätte uns den albernen Wutanfall erspart. Sie wäre auch nicht auf die Idee gekommen, uns als Hexen zu bezeichnen.“
„Amüsiert dich das nicht?“
„Gewiss nicht, wenn es das einzige Ergebnis all der sorgfältigen Erziehung ist. Ganz besonders nicht unter den gegebenen Umständen. Du sollst dich um ihr Talent kümmern. Wir werden es brauchen. So wie es ist, unverdorben und klar. Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, müsste ich dich fragen, was du mit deiner ‚Erziehung ‘ eigentlich bezweckst.“
„Ich dachte, eine Modifikation der Methode …“
„Deine methodischen Experimente will ich dir nicht versagen. Ich weiß, dass du gerne Resultate siehst, und du weißt, dass ich dich gewähren lasse. Doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Methoden hin, Methoden her, wenn sie das Gegenteil dessen bewirken, das wir bewirken wollen, dann muss das aufhören. Die Situation hat ihre Risiken. Die Kräfte, mit denen wir es zu tun haben, sind vielschichtig. Du weißt, was uns noch alles bevorsteht und wie riskant es sein kann. Also bitte. Enttäusche mich nicht.“
Catrin hörte eine Tür. Sie kauerte ganz still auf dem schmalen Sims und fühlte mit einem Mal die eisige Frühlingsluft durch ihr dünnes Gewand pfeifen. Die Nacht mochte eine Decke sein, doch sie schenkte einem keine Wärme. Aprilnächte waren kalt, und auf architektonischen Ziersimsen herumzuklettern war etwas für Knaben und nicht für junge Damen. Undenkbar, und zudem sinnlos.
Nun hatte sie also gelauscht, und es hatte ihr nichts eingebracht. Nutzloses Zeug, unverwendbar.
Was planten sie bloß? Den Erfolg ihres Vaters? Ihr eigenes Fortkommen? Was waren die Risiken, von denen sie geredet hatten?
Welches Talent? In all den Unterrichtsstunden, die sie durchlitten hatte, war ihr kein besonderes Talent aufgefallen, das man gefördert hätte. Im Grunde hielt man sie nur pausenlos beschäftigt.
Vorsichtig kroch sie zurück zum Fenster und schlüpfte wieder in ihr Zimmer. Sie schlotterte vor Kälte. Sie schloss das Fenster und hielt den Griff fest, presste die Stirn gegen das Glas. Die dunkle Nacht draußen stellte mit einem Mal keinen Schutz mehr dar, sondern eine Bedrohung. Kein Trost war mehr aus ihr holen. Trost war draußen geblieben, nichts als eine heimtückische Illusion, eine hinterhältige Phantasterei, die ihrem dummen Kopf entsprungen war.
Jetzt spürte sie sie wieder, die schwarzen, monströsen Kreaturen, die in ihrem Gemüt auf sie lauerten, hinter ihrer eigenen Wahrnehmung Verstecken spielten. Dornig waren sie, dürrbeinig krabbelten sie geschwind an der Außenkante ihrer Phantasie entlang. Ganz nah. Viel zu nah. Sie gehörten zur Nacht, in der sie sich zu verstecken versucht hatte.
Sie schauderte und überprüfte die Fenster noch einmal. Mit einer entschlossenen Bewegung zog sie die Vorhänge zu.
Wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, hatten Lucilla und Miss Colpin vermutlich recht. Sie hatte wirre, verrückte und völlig ungehörige Träume, sie
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