Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
kletterte auf dem Fenstersims außen an der Hauswand entlang, um ihre Stiefmutter zu belauschen – und das mitten in der Nacht. Sie fühlte sämtliche Unholde aus den Märchenbüchern auf sie warten. Vielleicht brauchte sie wirklich experimentelle Erziehungsmethoden – und Harfenunterricht. Harfe sollte gemeinhin beruhigend auf die Seele wirken.
Konnte es sein, dass sie verrückt war? Vielleicht hielt man sie der besseren Gesellschaft fern, weil sie eine Irre war und längst dabei, ihr bisschen Verstand zu verlieren. Träume wie dieser waren nicht normal, und Ängste wie diese auch nicht. Nur, warum hatte es früher keiner bemerkt?
Sie krallte sich in ihr Kissen, als die Erinnerung an ihre Traumvision über sie hereinbrach. Sie bebte wie im Fieber. Was für ein Traum! Sie fühlte sich zwischen Ekel, Angst und schwelender Begierde hin- und hergerissen. Sie dachte an die gestrige Begegnung mit Lord Edmond, und fragte sich, wie ein einziges Aufeinandertreffen dazu führen konnte, dass sie so unerhört lebendig von ihm träumte, dass sie solch gänzlich verkommene und verderbte Gedanken hatte. Selbst das Wissen um die physischen Details, die sie in ihrem Traum erfahren hatte, kam überraschend. Nichts davon hatte sie gelernt oder erfragt oder auch nur erraten. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, so viel über ein Vorgehen zu wissen, über das man nicht sprach. Verheiratete Damen kannten sich aus. Schulmädchen allerdings wurden nicht dazu angehalten, sich entsprechendes Wissen zu verschaffen. Dennoch hatte sie sich in völliger Klarheit alle Einzelheiten einer Begegnung vorstellen können, die an Amoral und Verderbtheit nicht zu überbieten war. „Trink meinen Wein ...“. Sie versuchte die Erinnerung an seine Stimme aus ihrem Kopf zu zwingen, doch der Hall verflog nicht.
Sie liebte diese Stimme, die so dicht war wie die Decke aus Nacht, in die sich einzuhüllen sie versucht hatte. Geisteskrank. Debil. Labil. Verrückt. Tobsüchtig. Toll. Sie musste diese Gefühle abstellen und verbergen, wenn sie nicht in einer Anstalt enden wollte, wo man ihr für den Rest ihres Lebens kalte Wassergüsse verpassen würde.
Dennoch zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass Männer genauso gebaut waren wie ihr weißhaariger Liebster in der Burgruine. Doch hätte sie das nicht wissen dürfen. Genauso wenig wie sie wissen durfte, was sie so sehr mit Verlangen erfüllte, dass sie beinahe Schlangen dafür küsste und Gift dafür trank.
Wein, korrigierte sie sich. Es war Wein. Die Schlange war außerdem nur eine Metapher für ihr eigenes sündenbeladenes Gewissen, das ihr eine Warnung zukommen ließ. Auf poetische Weise mochte dies beinahe einen Sinn ergeben. Man hatte sie zu einem anständigen, braven Mädchen erzogen. Das Anständige und Brave in ihr hatte seine eigene Art, ihr mitzuteilen, dass ihr Verlangen sündig war – selbst in einem Traum.
Nur ein Traum?
Sie versuchte, ihn zu analysieren, wie sie es mit einem Prosatext tun würde, holte sich dazu die geschliffene Stimme ihrer Gouvernante ins Gedächtnis wie eine Waffe gegen die Intensität der Erinnerung, die sie zu überwältigen drohte. Sie wuchs zu einer Frau heran. Sie hatte einen jungen Mann kennengelernt, der ihr Herz berührt hatte. Denn das hatte er getan. Sein Lächeln sandte einen Gruß durch ihr Gedächtnis, und mit einer entschlossenen Bewegung setzte sie sich auf, stellte das Gas höher und griff sich einen Band französischer Märchen. Sie öffnete das Buch. „ La Belle et la Bête – die Schöne und das Biest“, lautete die erste Überschrift. Sie schloss das Buch wieder und nahm sich das Gebetbuch vor.
Lucilla war klug. Sie hatte die Gefühle ihrer Stieftochter haargenau erraten. Doch schließlich war sie eine verheiratete Frau und musste ihre fleischlichen Gelüste nicht in Träumen ausleben. Der geheimnisvolle Palast sinnlichen Vergnügens musste für sie nicht in einem nachtverbrämten Tal versteckt bleiben, belagert von schlangenzüngigen Metaphern.
Das Gesicht ihres Vaters kam ihr in den Sinn, und sie stieß die Erinnerung mit einem schuldbewussten Gefühl von sich. Er durfte seine Tochter keinesfalls so wahrnehmen, in einem Zustand, in dem eine Erinnerung sie als unmoralisch und verkommen bloßstellte. Kein braves kleines Mädchen. Kein normales Mädchen.
Überhaupt kein kleines Mädchen. Eines hatte der Traum bewiesen: Ins Kinderzimmer gehörte sie nicht mehr. Sie fragte sich, ob das Kinderzimmer nicht vielleicht gar kein so schlechter Ort
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