Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
sein.
Vielleicht aber auch nicht.
Kapitel 20
Thorolfs Gedanken waren überladen mit Worten und Gefühlen, als er durch das nächtliche München radelte. Sein Quartier lag in der westlichen Vorstadt, nicht im teuren Zentrum. Da es unwirtschaftlich war, sich für die Entfernung jedes Mal eine Droschke zu nehmen, hatte er sich ein französisches Velocipede gekauft, ein echtes Lallement, das derzeit zu den modischsten Transportmitteln junger Herren zählte. Man sah darauf fesch und fortschrittlich aus, während man auf nur zwei Rädern durch die Straßen fuhr, und er hatte sich stolz und selbstbewusst gefühlt, als er vor einigen Stunden zum Tombosi am Hofgarten gefahren war.
Sein Selbstbewusstsein war Ärger, Schock und einem Bauchgefühl dunkler Vorahnung gewichen.
Es konnte nicht wahr sein. Es war nicht möglich. So etwas wie die Fey, die Sí, existierte nicht. Er hatte noch nie an Geister und Ungeheuer geglaubt, und er würde sicher nicht jetzt damit anfangen. Seine Mutter war gewiss nicht die Art Frau, die eine unheilige Beziehung mit irgendeinem vorüberziehenden Kobold einging – oder was immer der Kerl zu sein vorgab. Es war unmöglich. Undenkbar.
Ein Verdacht regte sich in ihm. Er war neu an der Akademie. Vielleicht handelte es sich um einen Streich? Möglicherweise war der Mann ein Schauspieler gewesen, angeheuert von seinen Kommilitonen, um ihn gründlich hereinzulegen. Das war immerhin möglich. Studenten spielten gerne Streiche, und Künstler waren kreativ.
Doch das erklärte nicht den Versuch seiner Mutter, ihm etwas über ihr früheres Leben zu erzählen. Es erklärte schon gar nicht, wie es dem Mann möglich gewesen war, ihn bewegungsunfähig zu machen, ohne ihn auch nur zu berühren. Ihm graute bei der Erinnerung an seine vollkommene Hilflosigkeit. So wehrlos hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Der Mann hatte ihn beherrscht. Ein Studentenstreich hätte das nicht vermocht.
Zuletzt erklärte es nicht, wie es Thorolf möglich gewesen war, schon zwei Tage bevor er ihn traf die Gesichtszüge des Mannes zu zeichnen. Mit einem Anflug von Ärger wurde ihm klar, dass Ian McMullen Bescheid gewusst hatte. ‚Ich könnte mir nur vorstellen, dass du irgendwann eine größere Überraschung erleben wirst ‘ , hatte er gesagt. Mehr nicht. Sein arkanes Talent, seine Integrität und Nüchternheit, Geheimhaltung und Diskretion sollten verdammt sein. Er hatte von der Schande seiner Mutter gewusst, hatte gewusst, dass Thorolf ein Bastard war. Illegitim. Unehelicher Bankert einer nachtschwarzen Offenbarung.
Doch es konnte nicht wahr sein. Er war kaum anders als andere Menschen. Er war überhaupt nicht anders. Vielleicht hatte er ja etwas künstlerisches Temperament, doch das war ein vollkommen menschlicher Zug. Er konnte niemanden mit einem Blick lähmen, konnte nicht ungesehen aus einem vollbesetzten Raum entweichen.
Er konnte immerhin nachts durch die schlecht beleuchteten Straßen radeln und ohne Probleme den Weg finden. Seine Nachtsicht war immer schon ausnehmend gut gewesen. Wo andere Leute halbblind durch die Dunkelheit stolperten, hatte er eine Vielzahl von Grauschattierungen gesehen, eine Welt wie in einer Tuschezeichnung. War das ein Hinweis auf seine Andersartigkeit? Ein Indiz dafür, dass er irgendwie unnatürlich und außergewöhnlich war? Er hatte nie besonders viel darüber nachgedacht, hatte das Talent lediglich dazu genutzt, bei seinen nächtlichen Besuchen bei den Damen die ungewöhnlichsten Routen zurückzulegen, wenn es Brüder oder Väter zu umgehen gab.
Er hatte keine Kinderkrankheit gehabt. Er war stark und gesund, ohne dass er dafür jemals hätte irgendwelche Leibesübungen machen müssen. Das Leben war ihm leicht angekommen. War das nun die Strafe für die Leichtigkeit, mit der er unverletzt und ungeschoren von einem Abenteuer ins nächste gestolpert war?
Er hatte Glück gehabt. Nur Glück.
Es ergab keinen Sinn. Ein plötzlicher Anflug von Wut auf seine Mutter durchfuhr ihn. Hatte sie ihn zu einem Bastard gemacht? Er war ehelich geboren. Niemand hatte je bezweifelt, dass er der Sohn von Richter Treynstern war. Er hatte schließlich auch dessen Vermögen geerbt, auch wenn es weitgehend in Immobilien gebunden war. Er war der Sohn eines hohen Beamten der österreichischen Gerichtsbarkeit, gehörte zu einer nicht unvermögenden und respektierten Familie. Das hatte er für langweilig befunden und sich mehr Aufregung gewünscht. ‚Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie
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