Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
Verteidiger. Ratko trug Fußfesseln und Handschellen. Jonathan konnte nur seinen Hinterkopf sehen, doch einmal drehte der Angeklagte sich um, weil er wohl wissen wollte, wer alles ins Gericht gekommen war. Er war genauso furchteinflößend, wie Jonathan ihn in Erinnerung hatte. Sein schwarzer Bart war noch dichter, seine dunklen Augen wirkten bedrohlich. Er trug ein graues Gefängnishemd mit dazu passenden Hosen, dazu seine eigenen Stiefel. Jonathan fiel auf, dass Constable Spender in der ersten Reihe direkt hinter der Anklagebank Platz genommen hatte.
Bojans Verteidiger war nicht sehr groß. Neben dem Kroaten wirkte er in seinem scheußlichen braunen Anzug wie ein Jugendlicher. Er rief mehrere Minenarbeiter in den Zeugenstand, die über die Schlägerei aussagen konnten. Manche erkannte Jonathan. Allebehaupteten, dass es am Abend der Schlägerei besonders dunkel gewesen sei, zu dunkel, um den offenen Minenschacht zu sehen, und dass Andro die Schlägerei angezettelt habe. Sie erklärten, er sei gestolpert und rücklings in die Mine gestürzt. Als Bojans Verteidiger und dann der Staatsanwalt die Zeugen befragten, wurde jedem klar, dass die Männer die Aussagen gut einstudiert hatten – eine Antwort ähnelte der anderen.
Schließlich wurde Jonathan in den Zeugenstand gerufen, und zwar als erster und tatsächlich einziger Zeuge der Staatsanwaltschaft. Als er durch den Mittelgang nach vorn trat, drehten alle die Köpfe und sahen ihn an – auch Bojan. Der kurze Weg kam Jonathan nicht wie zehn, sondern eher wie hundert Meter vor. Nachdem er vereidigt worden war, wagte er einen Blick hinauf zur Galerie. Wie erwartet schlug ihm Feindseligkeit entgegen, aber der aggressivste Blick kam von Bojan Ratko. Er bohrte sich in Jonathan hinein und nagelte ihn auf seinem Stuhl fest. Jonathan wandte den Blick ab und rief sich den Grund für seine Anwesenheit in diesem Saal ins Gedächtnis. Es ging darum, Andro und Marlee zu Gerechtigkeit zu verhelfen, er würde sich durch nichts davon abhalten lassen. In diesem Moment fiel sein Blick auf eine Frau, die gerade in den Saal schlüpfte – es war Carol-Ann. Sie lächelte beruhigend, und sofort spürte Jonathan, wie er ruhiger wurde. Wenigstens ein freundlicher Mensch war im Raum, der ihm beistand.
Der Staatsanwalt bat Jonathan, dem Gericht zu erzählen, was an dem Abend geschehen war, als Andro zu Tode kam. »Lassen Sie sich Zeit, Mr. Maxwell, und schildern Sie uns alle Einzelheiten, an die Sie sich erinnern können«, sagte er.
»Andro und ich hatten einen guten Fund gefeiert«, setzte Jonathan unsicher an. »Wir hatten Wein getrunken.«
»Wie viel Wein?«, fragte der Staatsanwalt.
Die Frage überraschte Jonathan, und er überlegte, welche Relevanz sie haben mochte. »Als ich gegen zehn Uhr zu meinemSchlafplatz ging, hatten wir drei Flaschen geleert, Andro öffnete gerade die vierte.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie reichlich betrunken waren?«, fragte der Staatsanwalt.
»Hätte ich allein so viel getrunken, hätte ich das Bewusstsein verloren«, sagte Jonathan in die Unruhe, die sich im Saal erhob. »Aber Andro war geübt, den meisten Wein hatte er getrunken.«
»Hat er weitergetrunken?«
»Ja. Ich schlief eine Weile, wie lange, weiß ich nicht genau, dann wurde ich von wütendem Geschrei geweckt. Männer trampelten über meinen Lagerplatz.«
»Was ging da vor sich?«, fragte der Staatsanwalt.
»Anfangs dachte ich, es wäre nur ein weiterer Streit über einen Wettbewerb der Olympischen Spiele. Das passierte in der Woche oft, wenn Betrunkene aus dem Pub kamen, wo sie die Berichterstattung über die Spiele im Radio gehört hatten. Ich stand auf und fragte jemanden, was da los sei. Man sagte mir, dass Andro und Bojan sich prügelten.«
»Ist das vorher schon einmal passiert?«, wollte der Staatsanwalt wissen.
»Ich hatte sie schon öfter streiten sehen, zu einer Prügelei war es jedoch nie gekommen.«
»Und wer begann üblicherweise mit diesen Streitereien?«
»Es war immer Bojan, der zu Andros Lagerplatz kam. Jedes Mal beschuldigte er ihn, ihm einen Opal gestohlen zu haben.«
»Das war nicht nur irgendein Opal«, rief Bojan. »Das war der Olympic Australis, und er hat ihn mir wirklich gestohlen.« Von den Fußfesseln behindert mühte er sich aufzustehen, doch der Constable hinter ihm zog ihn wieder auf seinen Sitz zurück.
»Ruhe!«, befahl der Richter. »Noch solch ein Ausbruch, Mr. Ratko, und ich lasse Sie wegen Missachtung des Gerichts in Ihre Zelle
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