Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
älteren noch dazu. Wie du siehst, ist es unglaublich wichtig, dass ein Vertreter des Verlages die Chance nutzt, um unsere anderen Bücher dort unterzukriegen, zum Beispiel das mit dem Bären, wo wir mit Valgardur jetzt sozusagen einen Fuß in der Tür haben. Und dass da ein junger Mensch hinmuss, liegt doch auf der Hand, die sind für Bohei jeglicher Art einfach besser geeignet.
Ich starre sie an, dann stammele ich, dass Stefanía sich doch viel besser mit der Chefeinkäuferin verstehen müsste, wo sie gleich alt seien, mal ganz abgesehen, dass Stefanía Valgardurs Werk sehr gut kenne und daher für diese Aufgabe absolut perfekt sei.
Aber die Brüder lassen sich nicht umstimmen: Nein, Stefanía hat zu dieser Jahreszeit genug mit der Buchhaltung zu tun. Außerdem habe sie Gelenk-Arthrose und könne daher nicht den Bären spielen.
Was?
Ja, Sunna, du spielst den Bären, diesen Pu. Stefanía näht schon eine Verkleidung für dich.
Dazu fällt mir nichts mehr ein.
*
Als ich Helgi aus der Schule abhole, erzählt er, dass er die Hausaufgaben bereits vor der Klavierstunde gemacht habe. Sein Klavierlehrer habe sich länger als sonst mit dem Schüler vor ihm aufgehalten, der ein Beethoven-Stück übte, das Helgi schon mit seiner Mutter einstudiert hatte.
Klavierlehrer?, frage ich.
Ja, deswegen sei er so lange in der Schule gewesen. Zweimal pro Woche nimmt er nach der Schule Klavierstunden, die Musikschule ist gleich dort im Keller. In Dänemark war seine Musikschule in einem alten Holzhaus gewesen, dort hatte er gern aus dem Fenster in den Garten geschaut, wo die Bäume sich im Wind bewegten, während er wartete und zuhörte, wie die anderen Schülern hinter verschlossenen Türen ihre Instrumente spielten: Gitarre, Flöte, Geige und Klavier. Und immer wenn gerade kein Instrument zu hören war, konnte er das Rauschen der Blätter hören, und die Instrumente schienen ihm wie Vögel in den Bäumen, und die Musikschule war der größte Baum im ganzen Garten.
In Island gibt es fast gar keine Bäume. Nur Steine. Und eine Musikschule mit niedriger Betondecke, das ist schlecht für den Klang. Helgi sieht mich so bedeutungsvoll an, dass ich so schnell wie möglich antworte: Ich habe leider nie ein Instrument gelernt und weiß wenig über Klang. Aber über den Mangel an Bäumen solltest du dich mal mit meiner Mutter unterhalten, die schimpft in einer Tour darüber, dass die Schafe in Island alle Bäume auffressen.
Sie muss eine intelligente Frau sein, stellt er fest und klingt für einen Moment wie ein älterer dänischer Herr, verwandelt sich aber wieder in einen Jungen zurück, als ich vorschlage, dass wir zum Abendessen in die Hamburgerbude am Hafen gehen, wo er doch mit den Hausaufgaben fertig sei. Und danach würde ich gern mit ihm zu einem Krimi-Workshop gehen. Mama hatte richtig gelegen. Als wir ins Auto steigen, strahlt er.
In der Hamburgerbude gönnen wir uns einen Schokoshake, Veggie-Burger und Pommes Frites und setzen uns an den hochglanzbeschichteten Tresen, mit Blick auf das aufgewühlte Meer.
Im Fenster blinkt eine Lichterkette, an der drei pubertierende Mädchen herumspielen, die auf den mit Tigerstreifenmuster bezogenen Barhockern kippeln und wie Küstenseeschwalben über den Köpfen der Arbeiter kreischen, die durch die Zeitung blättern, während der Koch ihre Hamburger ein letztes Mal wendet.
Das Zischen und Brutzeln ruft in mir die Erinnerung an Gewürzblutwürste wach, die ich einmal auf einem rußverschmierten Gasherd zubereitet hatte. Sie waren am Ende ganz schwarz, und wir spülten sie mit einem fast violetten Rotwein herunter, auf dem Balkon, im Schein einer Lichterkette, die vom Balkongeländer hing und Insekten aus der stickigen Sommernacht des Raval-Viertels anlockte. Jordi, Arndís und ich.
Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt, sage ich zu Helgi, der mich mit dem Mund voller Pommes anlächelt. Er schluckt und kichert:
Auch die Bäume und Mama.
In Dänemark, sage ich.
Stimmt, sagt Helgi überrascht und froh. Warst du mal da?
Ich habe da mal gewohnt.
Echt? Wann denn?
Früher, sage ich und beiße in den fleischlosen Burger.
*
Mama erwartet uns unten an ihrer Haustür. Ich laufe zu ihr hin, sie fasst mich an der Schulter, steigt vorsichtig zwei spiegelglatte Stufen herunter, seufzt erleichtert, als sie den Bürgersteig erreicht, hakt sich bei mir unter und verkündet, dass meine Freundin noch immer vermisst werde. Während wir uns langsam zum Auto vorarbeiten, tue ich so, als wäre
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