Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Zeiger auf der Wanduhr auf die Sieben zu. Oddný stellt sich neben der Tafel auf, klein, aber energisch. Sie trägt einen langen, bunten Schal, dessen Enden bis zu ihrem Babybauch reichen; ihr kastanienbraunes Haar fällt ihr auf die Schultern. Sie hat einen sympathischen Gesichtsausdruck, gutmütig und zugleich gewitzt, lebendige blaue Augen. Sie räuspert sich.
Und wir warten gespannt.
Ich möchte mit etwas ganz Allgemeinem anfangen, sagt Oddný und spricht sehr deutlich. Was ist ein Kriminalroman? Kann mir das jemand sagen? Mit ein paar wenigen Sätzen? Wir wollen schließlich in kurzer Zeit ein ziemlich großes Gebiet abdecken.
Zu meiner Verwunderung hebt Helgi die Hand. Oddný lächelt und bittet ihn zu antworten.
Das ist ein Roman, wo es um einen Kriminalfall geht, sagt Helgi keck. Oddný lächelt noch freundlicher und antwortet: genau. Aber sind alle Romane, in denen es um einen Kriminalfall geht, auch automatisch Kriminalromane?
Ich bin mir nicht sicher, antwortet Helgi. Oddný zwinkert ihm zu und lässt einen Stapel Kopien unter den Teilnehmern herumgehen. Sie sind überschrieben mit: Literaturwissenschaftliches Institut der Isländischen Universität. Der Text ist ein Aufsatz von K. J. und trägt den Titel Das Verbrechen, das nie gefunden wurde . Die Antwort auf Oddnýs Frage steht in der Mitte auf der ersten Seite:
»Nicht jeder Roman, bei dem es um ein Verbrechen geht, ist automatisch ein Kriminalroman. Sonst müsste man Dostojewskis Schuld und Sühne derselben literarischen Gattung zuordnen wie Mord im Orientexpress von Agatha Christie.«
Die Teilnehmer denken über das Zitat nach. Oddný zwinkert Helgi nochmals zu und setzt ihre Erläuterungen fort, erklärt, dass die großen Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts der Gattung Kriminalroman zu einer Blütezeit verholfen haben und dass der berühmte Edgar Allan Poe gelegentlich als wichtigster Wegbereiter des Krimis genannt werde. Sie zieht den Overhead-Projektor heran, legt eine Folie auf, und auf der Leinwand erscheint ein Mann mit schönem lockigen Haar und düsterem Blick. Dann rät sie den Teilnehmern, sich mit Poe zu beschäftigen. Im Verlauf dieses kurzen Workshops werden wir uns mit Charakteren, Struktur und Plot beschäftigen, was Ihnen hoffentlich dabei hilft, einen Schauplatz für eine eigene Krimi-Kurzgeschichte zu entwerfen. Zuvor möchte ich allerdings kurz auf den isländischen Kriminalroman eingehen. Seine Wurzeln reichen zwar ins frühe 20. Jahrhundert zurück, aber erst gegen Ende der 1990er Jahre hat er eine klare Form angenommen. Was glauben Sie, wo da der Wendepunkt gelegen hat?
Eine korpulente Frau im Wollpullover ergreift das Wort: Na, das wird wohl Arnaldur Indridason gewesen sein.
Seine Arbeit hat andere Autoren zweifellos motiviert, stimmt Oddný zu. Hinzu kommt sicherlich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre dazu geführt haben, dass isländische Leser heute mit Verbrechen mehr anfangen können als früher. Das Internet, eine offenere Gesellschaft und günstige Flüge lassen es plausibler erscheinen, dass auch in Island richtige Verbrechen passieren können. Doch bei der Auflösung des Falls lassen wir uns auf nichts Neues ein. Da vertrauen wir liebend gern auf die Methoden eines altmodischen Kommissars.
Auf dem Projektor weicht Poe einem litauischen Drogenschmuggler, während Oddný uns ansieht, als würde sie auf eine Frage warten. Ihre wachen Augen stoppen bei Helgi, als er sagt: Wenn ich zu Hause in Dänemark Krimis kucke, geht es mir gut.
Ich stupse den kleinen Kerl vorsichtig in die Seite, und er schaut mich an, Fragezeichen in den Augen. Im selben Moment sagt Mama, dass sie für ihren Teil Spaß an Krimis habe, seitdem sie in Alles klar in Reykjavík von Ólafur vid Faxafen von einem isländischen Banküberfall gelesen habe.
Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht, als Oddný meint, Alles klar in Reykjavík sei ein großartiger Thriller, aber kein typischer Krimi.
Und was ist mit Valgardur?, fragt eine Frau mit langem Gesicht, kupferrotem Haar und einem gleichfarbigen Kleid.
Der kommt am Abschlussabend zu uns, sagt Oddný. Wie Sie bestimmt wissen, spritzt in seinen Bücher nur so das Blut. Manche Kritiker fühlen sich sogar an Splatter-Filme erinnert oder an die Njáls-Saga.
Die Njáls-Saga ist eine Liga für sich, hören wir da einen Mann mit kräftiger Stimme und dünnem grauen Haar sagen, das vor lauter Aufregung ins Zittern kommt, als Oddný auf seine Plattitüde einsteigt: Die Njáls-Saga sei
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