Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ein Spiegel der Gesellschaft; sie führe uns, wie viele Krimis auch, das Verhalten bestimmter Randgruppen der Gesellschaft vor Augen. Krimis spiegelten oft auch die Vorurteile der Autoren wider, zum Beispiel gegenüber Ausländern oder Frauen. Valgardurs Kriminalromane spielten in Großstädten, und seine Personen kämen aus ganz unterschiedlichen Milieus, was wiederum typisch für das Genre ist. In jedem Winkel verberge sich bei ihm ein Unbekannter, von dem niemand wisse, ob man ihm vertrauen könne – nichts sei so, wie es scheint. Dasselbe gelte für Arnaldur Indridason. Seine Schauplätze seien zwar oft trostlosere Orte als die schicken Metropolen bei Valgardur, doch bei seinen Charakteren kenne er gleichermaßen keinerlei Einschränkungen.
Oddný räuspert sich, nimmt einen Schluck Wasser und fährt fort: Ähnlich trostlos ist die schneebedeckte Welt von Fräulein Smilla in dem nach ihr benannten Buch von Peter Høeg. Smilla ist eine halb grönländische Frau, die ganz allein in Kopenhagen lebt, in einer Welt, die in ihrer melancholischen Grundstimmung an das Vater-Tochter-Paar von Henning Mankell auf der anderen Seite des Öresunds erinnert, um mal zwei ganz verschiedene skandinavische Autoren zu erwähnen. Man kann allerdings auch sehr davon profitieren, mal einen anderen Krimi zu lesen wie zum Beispiel Motherless Brooklyn von Jonathan Lethem, Das Schwarze Buch von Orhan Pamuk und die New York-Trilogie von Paul Auster; letzteres Buch besteht zwar nur aus Geschichten über andere Geschichten, aber man kann viel davon lernen. Man muss sich nur näher mit Austers Großstadtmystik und seinen komplexen Figuren beschäftigen. In Romanen, die mit der Krimi-Form spielen, liegt der Hauptkonflikt oft in der Innenwelt der Personen, in den dunklen Seitenstraßen ihres Bewusstseins. Je mehr sich das Verbrechen im Kopf des Täters abspielt, umso künstlerischer der Roman!
Die meisten Teilnehmer lachen, wenn auch eher unsicher, doch Mama übertönt alle und fragt: Was ist mit Schwarze Vögel von Gunnar Gunnarsson? Oder Graumoos von Thor Vilhjálmsson?
Ach du Schande, will die jetzt den Workshop übernehmen?, denke ich, während Oddný ihr für diese Anmerkung dankt. Danach möchte sie, dass wir uns einen möglichst hermetischen Schauplatz ausdenken, eine Welt, in der eigene Gesetze herrschen, eine kleine Universität mitten auf dem Land zum Beispiel. Helgi steckt die Nase in sein Malheft, und Mama schlägt die Geschäftsstelle einer bis ins Mark korrupten politischen Partei vor.
Ausgezeichnet, sagt Oddný hastig. Und wer will, kann für diesen Schauplatz eine Kurzgeschichte schreiben und nach Weihnachten an den Verlag schicken, die sind immer auf der Suche nach neuen Talenten.
Das würde ich gern, sagt ein Typ mit eingefallenem Mund und verwuscheltem Haar. Aber dann müssen Sie uns auch beibringen, wie man sich einen spannenden Plot ausdenkt.
Beim nächsten Mal werde ich etwas zu Dramaturgie, Struktur und Plot sagen, erklärt sie. Bis dahin möchte ich, dass Sie sich einen interessanten Fall ausdenken. Beobachten Sie Ihre Mitmenschen so lange, bis Ihnen eine Idee kommt, die Sie weiterspinnen können. Sezieren Sie Umfeld, Verhalten und Vergangenheit der Unbescholtenen, nehmen Sie wahr, wie Menschen sich gegenseitig manipulieren und in bestimmte Rollen pressen, je nachdem, wie es Ihnen am besten passt. Merken Sie sich, an was Menschen sich erinnern und was sie lieber vergessen. Und denken Sie immer daran: Die Charaktere, deren Beziehungen zueinander und der Schauplatz sind die Grundlage für jeden guten Plot.
Oddný greift in ihre Tasche und zieht einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel hervor. Das eigene Leben kann uns ebenso Ideen liefern wie die Medien. Diese Meldung habe ich heute aus der Zeitung ausgeschnitten, sagt sie und legt sie auf den Projektor. Hier wird eine Frau als vermisst gemeldet, Arndís Theódórsdóttir. Sehen Sie sich die Meldung gut an, lesen Sie zwischen den Zeilen und beachten Sie die Wortwahl der Polizei. Vielleicht regt Sie ja das zu einer Geschichte an.
Ich unterdrücke einen Aufschrei.
*
Draußen hat es gefroren, die Scheiben sind vereist, seit einigen Tagen spielt das Wetter verrückt.
Als Helgi sich mit dem Kratzer über die Scheibe hermacht, fliegen Eisspäne durch die Dunkelheit. Der Parkplatz ist leer, die anderen sind bereits nach Hause gefahren, als wir noch die Kaffeetassen zusammengesammelt und abgewaschen haben.
Auf glatte Stellen achtend, bugsiere ich Mama zum Auto und helfe
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