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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audur Jónsdóttir
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Gute Nacht, Helgi.
    Er läuft ins Schlafzimmer, sein rotes Malheft unter dem Arm, in dem er während des Workshops fast die ganze Zeit herumgekritzelt hat, wahrscheinlich will er vor dem Einschlafen noch einmal einen Blick hineinwerfen, so wie seine Mutter es mit den Sachen für ihre Arbeit macht.
    Auch meine Mutter war immer schlauer gewesen als alle anderen. Und fleißiger. Wenn besonders viel Fisch angelandet wurde, wälzte ich mich im Bett hin und her und betete zu Gott, sie möge sich nicht überarbeiten. Gelobte, sie nie wieder um Geld für Kakao in der Schule oder eine Kinokarte am Wochenende zu bitten. Wenn sie nur gesund und munter heimkäme aus der Dunkelheit, dem Maschinenlärm, der Kälte.
    Sobald die Winternacht sie hereinwehte, schlief ich ein.

3. Dezember
    SCHEI… WIR HABEN schon wieder verschlafen!
    Hastig schaue ich ins Internet und schlürfe dabei meinen Kaffee, während Helgi sich beschwert, dass alle Anziehsachen hier zu klein und total merkwürdig seien und in seinem Rucksack nur Unterwäsche zum Wechseln. Seine Mutter habe gesagt, sein Vater würde ihm etwas zum Anziehen kaufen.
    Mein Magen zieht sich zusammen. Die Demütigung, mit komischen Klamotten zur Schule gehen zu müssen, kenne ich aus meiner Kindheit, dennoch überwiegt die Sorge um unsere finanzielle Situation. Normalerweise geht Axel mit Helgi immer etwas zum Anziehen kaufen, aber ich fürchte, er hat dieses Mal vergessen, diese Ausgabe einzuplanen. Auch wenn ich das Gegenteil hoffe, eins ist sicher: Sein Sohn wächst schneller als seine Firma.
    Das kriegen wir alles hin, sobald dein Vater zurück ist, verspreche ich ihm und ziehe eine hautenge Fahrradmontur von Axel hervor: ein neongrünes, langärmeliges Oberteil und schwarze Nylon-Hosen. Passt dir das?
    Er ist außer sich vor Freude.
    *
    Die Sonne hat Bäche in die Eisschicht auf dem Auto geschmolzen, die sich in allen Farben des Regenbogens schimmernd hinabwinden. Schneeammern hüpfen über das nasse Gras, Bettlaken knattern auf der Wäscheleine des Nachbarn im Wind, und Helgi fragt, ob er im T-Shirt zur Schule gehen kann.
    Ich sage Nein, wer weiß, wann die Sonne wieder verschwindet. Sofort verstärkt sich das flaue Gefühl in meinem Magen, das mich plagt, seit ich heute Morgen im Internet nichts über Arndís gefunden habe. Nur Nachrichten über Schlägereien in der Innenstadt, Politiker, die Kuhhandel treiben, und Ausländer, nach denen gefahndet wird.
    Die Welt ist eine andere, als sie es werden sollte. Früher, als ich noch ein Kind war, mussten wir morgens nur daran denken, dass wir das Geld für den Kaufmannsladen zusammenhatten, und uns den Dreck von den Hosenbeinen wischen. Ist das schon so lange her? Mir erscheint es wie gestern.
    Doch vielleicht hat sich auch gar nicht so viel verändert. Sie war die Mutter, ich war das Kind. Vielleicht war das alles.
    Aber diese Mutter hatte ihrem Kind damals gesagt, dass die Menschen in der Zukunft zivilisierter sein würden, als sie es damals waren, sie glaubte, dass die Leute in nicht allzu ferner Zeit weder Ge- noch Verbote bräuchten, sondern aus freien Stücken Gutes tun würden. Dass bald der Tag käme, wo sie gebildet genug wären, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie lebte in der Erwartung, dass das Land und die Macht eines Tages unter allen Menschen gleich verteilt sein würden. Sie redete wie eine Liberale, die ihr selbst genähtes Kleid auf den Zusammenkünften der Linken nur zur Tarnung trug, und schien sich weniger für Politik zu interessieren als vielmehr von einem Glauben an das Gute im Menschen angetrieben zu sein. Deswegen ist ihre Enttäuschung so bodenlos, obwohl sie die Welt anlächelt mit rot gemalten Lippen und Sonnen in den Augen.
    Meine kindische Mama.
    Vielleicht sind alle Mütter Kinder.
    Und die Kinder führen ihnen die Realität vor Augen. Egal, ob Mütter sich nur danach sehnen oder es sogar einfordern: Sie wollen, dass ihre Kinder ihnen die Enttäuschungen abnehmen. Dass sie die Welt besser machen.
    Was ich versuche. Von Mama angetrieben, suche ich nach Arndís. Schwimme durch die Zeit, durch die Glasfasern des Internets, wühle mich durch mein Bewusstsein, meine Erinnerungen, ihre Welt. Putze die Lupe und betrachte jedes Detail, der größte Detektiv der Welt. Rühre in einer Rhabarbergrütze, sauer und grün, wie Mama sie früher so hastig kochte, dass der Rhabarber noch halb roh war, schlucke mühsam. Schlucke den Glauben daran, dass die Welt besser wird, wenn Frauen ihren Müttern

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