Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ihr auf den Beifahrersitz, während Helgi auf der Rückbank mit den Zähnen klappert. Dankbar lächelt sie mich an, schnallt sich an, und ich sehe ihren Atem in der kalten Stille, als sie fragt, ob ich das Verschwinden von Arndís untersuchen wolle.
Wie meinst du das?
Na, die Kursleiterin hat gesagt, wir sollen uns bis zum nächsten Mal etwas zu dem Fall einfallen lassen. Außerdem ist sie deine Freundin, Sunna! Wer würde da keine helfende Hand ausstrecken? Sie sieht mich fragend an und seufzt, als ich einfach die Tür schließe. Sobald ich mich ins Auto gesetzt habe, wiederholt sie die Frage.
Schweigend starte ich den Motor, da steckt Helgi den Kopf zwischen uns und sagt, ich solle meiner Freundin helfen.
Wer sagt denn, dass sie Hilfe braucht?
Sie wird vermisst, sagen beide wie aus einem Mund. Ich sehe sie an und frage, was wir tun könnten.
Du hast einen Fall, und du bist der Detektiv. Du musst anfangen zu ermitteln, sagt Helgi. Dann sieht er Mama an und fragt, was Miss Marple an meiner Stelle machen würde.
Sie würde die Leute in ihrer Umgebung beobachten, sagt Mama so entschlossen, dass ihre Augen funkeln. Genau wie diese Oddný, die traut sich, ihre Umgebung zu sezieren. Von der können wir einiges lernen. Zum Beispiel, wie man Leute beobachtet.
Was für Leute denn?, seufze ich.
Aus dem Umfeld deiner Freundin, antwortet sie.
Und wo soll ich die finden?
Indem du sie anrufst, sagt Helgi triumphierend. So machen Detektive das doch. Alles beginnt mit einem Telefongespräch.
*
Helgi darf wieder bei mir im Zimmer schlafen. Es gefällt ihm, dass es in der Wohnung seines Vaters ähnlich hell und gemütlich ist wie bei ihm zu Hause. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt er auf seine altmodische Weise und flitzt ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.
Das Display auf unserem Telefon blinkt, drei verpasste Anrufe aus Dänemark, aber der Zeitunterschied hält mich davon ab, seine Mutter jetzt noch zurückzurufen. Ich muss morgen daran denken. Außer Axel ist dann da.
Es scheint eine halbe Ewigkeit her zu sein, seit wir uns gestern Morgen geküsst haben. Ich habe kaum Zeit gehabt, ihn zu vermissen.
Hoffentlich kommt er bald nach Hause, murmele ich. Mache mir einen koffeinfreien Tee und stelle die Teeschachtel zurück in den Küchenschrank. Auf der Innenseite der Tür klebt ein Plakat, das Axel viel zu zerfleddert findet. Er meint, es passe nicht zu unserer weißen Einbauküche. Dieses Plakat war der einzige Wandschmuck in meinem WG-Zimmer in Barcelona und hat mich seitdem überallhin begleitet, wenngleich ich mich nie aufraffen konnte, es rahmen zu lassen, und nun ist das Papier dafür zu gewellt. Ich hatte es im Dalí-Museum in Figueres gekauft, es kostete ein Wahnsinnsgeld, doch dieses Bild mit den wie geschmolzener Käse zerlaufenden Uhren hatte mich fasziniert. Es ist so berühmt, dass es schon zum Klischee geworden ist, doch für mich hat es trotzdem nie seinen Reiz verloren. Sogar der Name regt mich immer noch zum Nachdenken an: Die Beständigkeit der Erinnerung . Ich finde, es passt gar nicht schlecht in unsere Küche, die Axel ebenfalls selber gebaut hat. Bei den meisten Leuten hätte ich in diesem Bild keinen besonderen Sinn gesehen, es für nicht mehr als ein bedrückendes Mahnmal dafür gehalten, wie wenig Zeit uns im Leben bleibt. Doch das ist falsch. Das Bild hat etwas Tröstliches.
Plötzlich steht Helgi neben mir. Gute Nacht! Er lächelt mit Zahnpasta im Mundwinkel.
Gute Nacht, sage ich.
Morgen fangen wir an zu ermitteln, beharrt er.
Und du wolltest morgen deine Mama anrufen.
Ja, sagt er. Das tue ich gerne. Ich wollte es schon heute machen, aber wir sind so spät nach Hause gekommen.
Du solltest ein Handy haben, damit deine Eltern dich immer erreichen können.
Davon bekomme ich einen Hirntumor. Mama kennt sich damit aus. Sie liest mehr als alle anderen.
Sie ist sehr schlau, sage ich und nehme einen Schluck Tee.
Deine Mama auch, sagt er nachdenklich. Wo ist eigentlich dein Papa?
Ich zucke zusammen. Habe keine Ahnung, was ich antworten soll, ich habe lange nicht an ihn gedacht, tue das ohnehin selten, seit ich wieder in Island bin, man kann ja auch nicht dauernd an jemanden denken, der nicht einmal ein Gesicht hat. Auch von Mama war nichts über ihn zu erfahren, sie traute sich kaum, seinen Namen auszusprechen, zumindest nicht, bis sie im Alter anfing, Esperanto zu lernen, und seinen Nachnamen hatte sie da bereits vergessen.
Der ist irgendwo, sage ich so freundlich wie möglich.
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