Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
gehorchen.
*
Allein schon der Gedanke, bei Arndís zu Hause anzurufen, macht mich traurig. Ich muss aufhören, daran zu denken, denke ich und stürze mich in die Arbeit. In kürzester Zeit gelingt es mir, drei Verbrauchermärkte abzuklappern und den philosophierenden Bären, dank gewiefter Prozente-Feilscherei, in einem davon sogar im Sortiment unterzubringen.
Bei Arndís anrufen – was für eine Schnapsidee. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen, kenne sie kaum noch, vielleicht ist sie tot, vielleicht habe ich sie auch nie gekannt. Trotzdem suche ich nach der Nummer ihrer Galerie, ihre Privatnummer scheint geheim zu sein.
Ihr Mitarbeiter weigert sich, mir irgendwelche Informationen zu geben, wahrscheinlich befürchtet er, ich wäre von der Presse, also rufe ich ein zweites Mal mit verstellter Stimme an, gebe mich auf Englisch als Kollegin von Arndís aus und bitte um ihre Privatnummer, nachdem ich mein Anliegen mit einigen Businessfloskeln garniert habe.
Krass, wie ich mich von Mama unter Druck setzen lasse: Wer würde da keine helfende Hand ausstrecken, hatte sie gestern gesagt. Genauso gut hätte sie sagen können: Willst du deiner Mutter nicht ermöglichen, aus nächster Nähe einen superspannenden Krimi zu verfolgen?
Die Sonne wirft einen Schatten auf meine Gedanken. Sie nagt an den Pupillen, strahlt ein Staubkorn an, das in meine Nase wirbelt und wenig später mit einem Niesen wieder heraus. Warum scheint die eigentlich immer noch?
Weil die Welt aus den Fugen ist, sagt Kjartan, als ich mit einer Handvoll Bestellungen ins Lager komme, aber der Bürobote lacht ihn nur aus, bevor er aus dem Rolltor läuft und sich auf die Ladefläche seines klapprigen Kombis legt, um ein paar Minuten die Sonne zu genießen. So sollte ich es auch machen: dieser Papierwelt entfliehen, die Sonne genießen, statt sie zu verachten, ein-aus-ein-ausatmen und vergessen, dass meine Detektivkollegen auf einen Anruf warten.
Was gäbe ich dafür, wenn die Sonne jetzt in Ísafjördur scheinen, Axel zurückkommen und diesem Blödsinn ein Ende bereiten würde. Ihm wäre es ein Leichtes, Mama und Helgi davon zu überzeugen, wie taktlos es ist, einem Menschen hinterherzuschnüffeln, den man kaum mehr kennt. Sein entspanntes Lachen weht alle Sorgen fort. Lässt alles kristallklar werden. Oder? Er hat mich gebeten, eine mir gänzlich unbekannte Frau in Dänemark anzulügen. Ich fürchte mich davor, sie anzurufen, hoffentlich reicht es ihr, mit Helgi zu sprechen. Wenigstens muss ich mir so nicht anhören, wie Axel sich mit ihr um das streitet, was ihnen im Leben am liebsten ist. Wie immer. Wie sein Lachen erstirbt. Und ich nichts dagegen tun kann.
Ich muss mich aufraffen. Mehr unbekannte Leute warten auf mich, denen ich mehr ungelesene Bücher verkaufen muss. Bevor ich den Sohn der unbekannten Frau von der Schule abhole. Und unbekannte Leute anrufe.
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Ich gebe Zahlen in unser Buchhaltungsprogramm ein, um alles zu beschleunigen.
Null. Komisch. Ich muss etwas falsch eingegeben haben.
Wie wohl das richtige Resultat sein mag?
Das ist nicht mein Problem. Ich bin nur dafür verantwortlich, die richtigen Zahlen einzugeben.
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Telefonklingeln erlöst mich von der Excel-Tabelle auf dem Computerbildschirm. Es gelingt mir, einen Seufzer zu unterdrücken, als Mama sich meldet, ich hatte gehofft, es wäre Axel, ja, oder meine Freundin Björg, ich habe ewig nichts mehr von ihr gehört.
Mama hält sich nicht lange mit Vorgeplänkel auf: Hast du bei dem Mädchen zu Hause angerufen?
Nein, ich muss arbeiten. Außerdem weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ehrlich gesagt frage ich mich, ob wir uns wirklich in diese Sache einmischen sollten. Im Ernst, Mama.
Himmelschreiender Heilbuttgestank, ruf da an!, befiehlt sie. Wer weiß, vielleicht kannst du helfen, sie ist deine Freundin, ihr habt zusammengewohnt. Das Mädchen hat eine Menge durchgemacht, du hast doch nicht vergessen, was ihr vor einigen Jahren Schreckliches passiert ist, oder? Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es sich immer lohnt, seine Gedanken in die Tat umzusetzen. Immer! Vielleicht weißt du ja etwas Wichtiges, ohne es zu ahnen. In solchen Angelegenheiten weiß man nie. Nun trau dich schon, Sunna.
Oje, denke ich und murmele okay.
Tue es mir zuliebe, sagt sie so süßlich, dass mir der Verdacht kommt, sie hat in ihrem Omacafé vorbeigeschaut, Portwein getrunken und Ódinn Valdimarsson zugehört, wie er davon singt, dass er leben will, lieben und genießen.
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Zum Glück nimmt
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