Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Herzgegend zu streichen und die in ihm wohnende Lebenskraft zu spüren, die ihn dazu bringt, Luxusreisen am Ende der Welt auf die Beine zu stellen.
Bei genauerem Nachdenken fällt mir auf, dass er schon lange nicht mehr da gewesen ist. Er ist immer irgendwie weg.
Vielleicht hätte ich es ihm ausreden sollen, als er zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte, bei der Werbeagentur aufzuhören und eine eigene Firma zu gründen: abgelegene Fischerdörfer in Wellness-Landschaften für Städter umzuwandeln. Er, der in den Westfjorden geboren war, träumte davon, sein Dorf davor zu bewahren, ein Geisterdorf zu werden, indem er Touristen ködern wollte, die größten Fische von hier und da. Nun arbeitet er daran, Fitness-Studios zu finanzieren, Gesundheitsköche anzulocken, Hochsee-Safaris, Spas, Jagdausflüge zu Land und zu Wasser und Luxuswanderungen anzubieten. Es hat nicht lange dauert, bis aus dem einen Dorf mehrere Dörfer geworden sind, und nun bietet er den Einheimischen Unternehmensberatung aller Art an und hetzt mit Laptop und Handy von Fjord zu Fjord.
Mama hat seine Pläne nie gemocht. Sie hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wie das Leben in den Westfjorden gedeihen soll. Axels Mutter war Strickerin und starb an einer Hirnblutung, als er Teenager war, sein Vater ertränkte sich im Brennivín, nachdem er aufhörte, zur See zu fahren. Er hat nur mich, die an ihn glaubt.
Also habe ich an ihn geglaubt. An ihn, der wie ein kleiner Junge strahlt, wenn er mir von seinen Träumen erzählt, und mich mit seinem Optimismus ansteckt; der alle Sorgen mit einem Lachen und einer seiner hochtrabenden Geschichten fortfegt, die mich immer wieder daran erinnern, wie lustig das Leben sein kann; der mir bei einem Kuss zuflüstert, dass alles möglich sei.
Hätte ich ihm bloß vorgeschlagen, sich wieder der Literaturwissenschaft zuzuwenden, wie es auf seinem Uni-Diplom steht. Einen Roman könnte er bestimmt auch schreiben und von unserem Bankkredit leben, tagsüber zu Hause am Computer sitzen und abends für mich kochen. Das waren meine Träume, als wir uns in einer Disko kennengelernt hatten, kurz bevor die Nacht vorbei war. Frisch von seiner Frau und dem Zukunftstraum einer wissenschaftlichen Karriere in Kopenhagen getrennt, war er nach dem Freitagsumtrunk mit seinen Kollegen aus der Agentur in Partystimmung. Ich wollte endlich etwas Neues anfangen, nachdem ich seit mittlerweile einem Jahr bei dem Verlag arbeitete, was ja nur vorübergehend sein sollte, bis ich Fuß gefasst hatte. Ein knappes Jahr lang trafen wir uns immer wieder, während er sich in seinem neuen Leben zurechtfand und ich bei dem Verlag langsam Wurzeln schlug. Ich war völlig hin und weg, dass er an mir Interesse hatte. Bald darauf kündigte ich das Zimmer, in dem ich zur Untermiete wohnte, und zog zu ihm. Er wollte mein Zuhause sein. Und umgekehrt.
Wir wollen ein Kind.
Ein halbes Jahr später verkaufte er seine Wohnung, und wir mieteten eine andere, nicht zu weit weg von der Innenstadt. Ich dachte mir, dass er das Geld für die Zinsen und Zinseszinsen von dem Kredit brauchte, den er mit seiner Exfreundin aufgenommen hatte, den Unterhalt für das Kind, sein Studiendarlehen und die Steuerschulden, die sich angesammelt hatten, als seine Ex und er noch eine romantische Freiberufler-Existenz mit kleinem Kind geführt hatten und dauernd durch die Gegend jetteten. Während Axel unsere Gläubiger immer wieder vertröstete, hatte ich nun bald auch Schulden und Träume und die Hoffnung auf irgendeine Veränderung. Und was machen die Verzweifelten? Sie gründen ein Unternehmen. Gehen zum Angriff über, das Einzige, was hilft gegen die Resignation.
Ich muss an seine Träume glauben. Sonst zerplatzen nämlich meine. Einer nach dem anderen gehen sie kaputt, ich zertrampele sie wie ein barfüßiger Tagelöhner bei der Weinlese die zu Boden gefallenen Trauben. Der Saft quoll zwischen meinen Zehen hindurch, während ich mich zum Yoga geschleppt und am nächsten Morgen geflüstert hatte: Wir müssen uns genießen, jetzt und hier auf den Küchenfliesen, damit wir einander nicht verlieren. Wir wissen doch beide nicht mehr, wann wir uns das letzte Mal berührt haben. Oder?
Das Kind hätte längst da sein müssen. Der richtige Job, der Platz im Leben gefunden. Und ich suche nach einer anderen Frau.
Morgen muss er einfach kommen.
Ich wünschte, die Sonne würde aufhören zu scheinen.
Ich wünschte, der Wind würde sich legen.
*
Wirklich dumm, dass ich mit dem Mann mit der Uhr
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