Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
auf. Ist das so, wenn man ein Kind hat?
*
Entweder sie haben die Flüge doch wieder gestrichen oder Axel hat keinen Platz bekommen. Er hat überlegt, in ein günstigeres Hotel umzuziehen, vielleicht sogar eine Pension. Hoffentlich hat er das getan.
Die Zeit spielt gegen ihn.
*
Im Halbschlaf erzittert das Bett. Ein Erdbeben oder ein Traum? Ich setze mich auf, aber Helgi schläft wie ein Stein, sein Kopf kuckt aus dem Bettbezug mit dem Schmetterlingsmuster heraus, Haar bedeckt sein Gesicht.
In der Dunkelheit kommt das Dasein ins Schweben, so dass ich ein-aus-ein-aus-ein-ausatme und versuche, mir den ersten Goldregenpfeifer des Frühlings vorzustellen, so wie Mama es mir einst beigebracht hatte: Schließe die Augen, stell dir vor, wie er sein Nest baut, und fühle, wie schön es ist zu schlafen, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.
Aber kein Goldregenpfeifer lässt sich blicken, egal, wie sehr ich es versuche, ich sehe nur Fleischbrocken in dem Nest, die mich an das Fleisch von Schneehühnern erinnern. Ich müsste mir eigentlich einen Goldregenpfeifer vorstellen können, doch meine Fantasie leistet Widerstand, das Einzige, an das ich denken kann, ist Geflügelfleisch – das kann doch nicht sein, ich bestimme doch hier. Dieh-dieh macht ein Goldregenpfeifer, der nirgendwo zu sehen ist, dieh-dieh. Ich erinnere mich an das schrille Kreischen, als die Katze des Nachbarn vor langer Zeit einen gefangen hatte, und wie ich im nächsten Frühjahr nervös geworden war, als die Goldregenpfeifer wiederkamen. Ich rechnete jeden Moment damit, dass eine Katze sie zerfetzte, und dachte an sie, wenn meine Mutter am Wochenende Hühnchen kochte.
Ich verliere die Kontrolle.
Sie ist in unser Leben getreten.
Sie, die die Welt kontrollierte, aber nie ihren Körper.
Die am ganzen Körper zitterte, sich hin und her warf, von krampfartigen Spasmen gekrümmt, während Schaum aus ihren Mundwinkeln quoll und die Augen hervorstanden. Über ihre Stirn floss Blut.
Starr vor Schreck sah ich sie an, dann fiel ich auf die Knie, griff ihren Kopf und hielt ihn fest, während die Zuckungen schwächer wurden. Wusste weder, was ich tun sollte, noch, was passiert war. Wir hatten uns auf einen Schluck Kaffee in unser Zimmer gesetzt und waren ziemlich verkatert, nachdem wir bis zum Morgengrauen durch die Clubs gezogen waren und uns in jedem von ihnen irgendwelchen spanischen Fusel genehmigt hatten. Dann schrie sie plötzlich, stürzte vom Bett und schlug mit der Stirn auf den Bodenfliesen auf. Nachdem der Anfall vorüber war, verging eine ziemliche Zeit, bis sie ihre Augen öffnete und sich umsah, als hätte sie die Welt noch nie gesehen.
Wie geht es dir?, stotterte ich. Soll ich einen Krankenwagen rufen?
Wer?, fragte sie kraftlos.
Ich. Soll ich einen Krankenwagen rufen? Erinnerst du dich an irgendetwas? Wie heiße ich?
Wer?, wiederholte sie, so dass mir ein Schauer den Rücken hinunterlief.
Die Nachbarn halfen mir, einen Krankenwagen zu rufen, der Lärm hatte das hellhörige Haus alarmiert.
Als die Sanitäter erschienen, ging es Arndís etwas besser. Sie hatte ein Glas Wasser heruntergekippt und ihren Namen gesagt, bevor sie erschöpft in sich zusammensank. Sie zitterte in der feuchten Luft, die sich im Zimmer festgesetzt hatte und das Vanillearoma der Räucherkerzen überdeckte. Nach meinen Beschreibungen vermuteten die Sanitäter, es sei eine sogenannte Grand-mal-Epilepsie gewesen, was ich spontan als ›sehr schlimme Epilepsie‹ übersetzte. Ja, sie war Epileptikerin, bei genauerem Suchen fanden sie ein Epilepsiemedikament in ihrer Kulturtasche. Sie verbanden ihr die Wunde auf der Stirn, rieten mir, sie zum Arzt zu schicken, sobald sie sich erholt hatte, und ihr viel zu trinken und etwas Süßes zu essen zu geben, sobald sie aufwachte. Sollte sie einen weiteren Anfall bekommen, gebe es wenig anderes zu tun, als sie möglichst schnell in die stabile Seitenlage zu bringen und abzuwarten – falls sie blau anlaufen oder etwas Ähnliches passieren würde, sollte ich sofort einen Rettungswagen rufen.
Dann wartete der nächste Einsatz.
In meiner Verzweiflung lief ich zum nächsten Laden und kaufte Bananenjoghurt, Fruchtsaft, Wasser und Schokolade. Den Rest des Tages wachte ich an Arndís’ Seite, trocknete ihren kalten Schweiß und flößte ihr Saft und Schokolade ein, sobald sie etwas zu sich kam. Gegen Abend wurde sie wach, sah sich verwirrt um und fragte, ob ich sie ins Bad bringen könnte. Ich bin klatschnass,
Weitere Kostenlose Bücher