Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Mann mit den unkontrollierbaren dunklen Locken und den fast wasserfarbenen Augen, die mich aufmerksam betrachteten, als wir uns eines Abends kennenlernten. Sie hatten mich zu einer Art Abschiedsabendessen eingeladen. Alles superfein, er in Jackett und Lederschuhen, sie auf hohen Absätzen in einem körperbetonten Spitzenkleid von einem katalanischen Designer. Wir gingen in ein hyperexperimentelles Restaurant, wo Spaghetti Bolognese als eine Art Shake in einem Nachtisch-Glas serviert wurde und sich das Eis durch eine Knoblauchsauce in ein Hauptgericht verwandelte. Es war wie in Alice im Wunderland , bis hin zum schwarzen Klopapier. Und natürlich teuer. Er bezahlte, schließlich jobbte er in den Semesterferien auf einem Fischtrawler; er genoss es, uns einzuladen, großzügig, geistreich und etwas distanziert. Die Beschreibung, die Arndís mir von ihm gegeben hatte, übertraf er bei Weitem. Ich hatte sie nie so charmant erlebt, sie war lieb wie ein Kind und hatte den ganzen Abend ein Champagnerlächeln auf den Lippen. Auf dem Weg nach Hause gingen sie einen Schritt voraus, beschwingt und eng umschlungen, während die hohen Absätze trommelten: klick, klick, klick.
Am Tag nach ihrem Anfall hatte sie mir zum ersten Mal ausführlicher von Benni erzählt. Wir saßen an einem wintergrauen Tag in einem marokkanischen Imbiss. Sie hatte mich überredet, während der Vorlesungszeit mit ihr dort hinzugehen, denn ihr Körper brauchte Nahrung nach all der Anstrengung.
Unberechenbar wie immer bestand sie darauf, hier zu essen, angeblich, weil die Kellner so süß seien. Als ich die Augenbrauen hob und sie an die harschen Worte erinnerte, mit denen sie das Los der muslimischen Frauen beschrieben hatte, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte, dass es da günstiges und reichliches Essen gebe. Wenn sie schon Fastfood essen würde, dann wenigstens ein marokkanisches Fleischgericht, das vom Geschmack her zumindest ein wenig an die deftige Küche unserer Mütter erinnerte.
Bei Minzetee, gebratener Leber mit Salat und klebrig süßen Keksen zum Dessert erzählten wir uns Geschichten aus unserem Leben. Wir steckten die Köpfe zusammen, während arabischer Pop aus einem alten Fernseher in der Ecke plärrte. Beide waren wir in einer Welt aufgewachsen, die stärker nach Fisch roch, als wir gerne zugaben, aber ansonsten hatten wir es eigentlich ganz gut gehabt in unserem Zuhause, wo es an nichts fehlte, außer an Geld; beide waren wir Einzelkinder, unsere Mütter rackerten sich den ganzen Tag ab, und wir schämten uns beide für etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte, Arndís aber als Mutterliebchen bezeichnete. Das mussten wir doch mal so ehrlich sagen.
Ich glaube, ich verstehe dich nicht ganz, sagte ich und fühlte eine gewisse Anspannung. Arndís lächelte, während sie in ihrem Tee rührte. Na klar tust du das. Du musst dich trauen, du selbst zu sein.
Ich wurde zunehmend irritierter. Wie meinte sie das bloß?
Du musst die Nabelschnur durchtrennen, nach deinem eigenen Kopf leben. Wie ich es gemacht habe. Das wird nicht einfach – aber so ist das eben, wenn man sich unabhängig macht. Seinen eigenen Werten folgt. Dafür musst du nun mal deine Herkunft vergessen, all das, mit dem man dich vollgestopft hat. Dir dein eigenes Leben aufbauen. Sie lachte über die Feierlichkeit ihrer eigenen Worte, beharrte aber darauf, dass es ihr ernst war, nahm einen Schluck Tee und fragte, ob meine Mutter mich wirklich um Weihnachten herum besuchen kommen wolle.
Ja.
Sag ihr, sie soll nicht kommen.
Bist du bescheuert?, kicherte ich.
Ich meine das ernst. Sie beugte sich vor, sah mich eindringlich an und sagte: Lass es auf einen Versuch ankommen, Sunna. Glaub mir, du strotzt nur so vor Unselbständigkeit. Ich werde dir helfen, das zu ändern, ich war doch mal in derselben Situation wie du. Es tut weh, für andere zu leben und nicht für sich selbst. Niemand weiß das besser als ich.
Ich glotzte sie an. Sagte, dass das zu krass wäre. Meine Mutter hatte Monate lang gespart und schon vor langer Zeit den Flug gebucht. Sie hatte noch nie so eine weite Reise gemacht. Wir hatten uns beide darauf gefreut.
Doch darauf war sie vorbereitet. Ihr Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Grinsen, als sie sagte: Genau deswegen. Gerade weil es so krass wäre, dass du denkst, du kannst das unmöglich tun. Versuch doch wenigstens ein Mal, dich aus den Fesseln zu lösen, in denen du von Geburt an steckst. Trau dich!
Es war die Aufrichtigkeit in ihren Augen,
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