Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
sagte sie mit leiser Stimme. Ich muss mich waschen, kannst du mir helfen?
Im Anschluss schüttelte ich ihre Decke auf, machte uns mit Honig gesüßten Kamillentee, erklärte unseren finnischen Mitbewohnern, was passiert war, und setzte mich dann neben sie aufs Bett. Wir sahen uns an. Kerzenstummel und die Lichterkette beleuchteten das winzige Zimmer, in dem nicht mehr war als ein Bett, zwei zerschlissene Lederkissen, ein wackeliger Wohnzimmertisch mit einem übervollen Aschenbecher mit Guinness-Schriftzug, dünne Kleidchen auf Bügeln, die an einem Deckenbalken hingen, und ein paar Koffer. Doch wir hatten einander, und sie vertraute mir in diesem Moment, oder vielleicht war es auch eher so: Sie war gezwungen, mir dasselbe Vertrauen entgegenzubringen wie ich ihr.
Wahrscheinlich hatte sie nie vorgehabt, mir etwas anzuvertrauen, das in ihrem Leben wirklich eine Rolle spielte. Die Epilepsie ging nur sie allein etwas an, nur die wussten davon, die miterlebt hatten, wie Körper sie enttarnte. Das spürte ich und beeilte mich, etwas von mir preiszugeben, damit sie sich nicht so schämen musste. Also erzählte ich ihr von den Depressionen, an denen ich als Jugendliche gelitten hatte, wie ich mich geschämt hatte, Medikamente gegen Traurigkeit und Stimmungsschwankungen nehmen zu müssen, Medikamente, die Mama Psychopharmaka nannte, als sie beteuerte, wie verdammt normal es sei, dass ein Mädchen mit Maurenblut in den Adern im Winter deren Hilfe brauchte, um ihr Herz gegen die Kälte zu schützen. Natürlich hatten diese tröstenden Worte meine Scham verdreifacht.
Arndís lachte matt. Sie wusste, wie es war, eine pragmatische Mutter zu haben, und erzählte mir, wie ihre Mutter plappernd um ihren Vater rotierte, der im Rollstuhl saß, seit er mit dreißig im Hafen einen Arbeitsunfall hatte. In seiner Schwermut vertrieb er sich die Zeit damit, ihre Mutter zu hänseln, er tyrannisierte sie zum Spaß – und die dumme Kuh riss sich ein Bein aus, um ihn zu bedienen. Jahrelang ist die ihm in den Arsch gekrochen, sagte Arndís verächtlich und vergaß, ihre Angst zu verbergen, als sie zugab, nichts im Leben mehr zu fürchten, als bei einem Anfall so schlimm zu fallen, dass auch sie im Rollstuhl endete.
Dann nahm sie einen Schluck Tee und erzählte mir mit sarkastischem Lächeln, dass sie sich mit dreizehn auf einem Breakdance-Workshop bei dem berühmtesten Breakdance-Star von ganz Island den Fuß gebrochen hatte. Wir lachten beide, futterten Schokolade. Dann verriet ich ihr, dass ich im Winter dauernd Blasenentzündungen hatte und nach dem Sex sofort aufs Klo rennen musste. Nun lachten wir noch mehr, und Arndís erzählte, dass sie während der Schulzeit, ohne es zu merken, so lange Chlamydien gehabt hatte, dass sie wahrscheinlich keine Kinder bekommen konnte.
Oh, stöhnte ich sprachlos.
Ach, ist doch egal. Ein trotziges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie sagte, dass die Epilepsiemedikamente ohnehin schädlich für das Baby sein könnten, es könnte einen offenen Rücken bekommen, und das wäre doch fürchterlich, und man müsse ja schließlich auch nicht unbedingt Kinder bekommen, sie habe mit ihrem Leben anderes vor, als ein Brutkasten zu sein.
Sie nahm erneut einen Schluck Tee, warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und lachte. Niedergeschlagen. Und weil sie jemand war, der nicht gern Gefühle zeigte, stand ich auf und sagte, ich wolle in die Dusche. Als ich zurückkam, war sie eingeschlafen. Im Vergleich zu der Arndís, die ich am Tag zuvor gekannt hatte, lag da nun ein ganz anderer Mensch. Konnte es sein, dass sie mehr Bekannte hatte als Freunde?
Erst jetzt fällt mir auf, dass es sie vielleicht beruhigt hatte, dass ihr damaliger Freund Benni Arzt gewesen war. Und nun, nachdem Benni in Afrika ums Leben gekommen ist, hat sie wieder einen Arzt.
Kann es sein, dass sie irgendwo in der isländischen Wildnis einen Anfall gehabt hat?
Allein.
4. Dezember
WAS MACHST DU da bloß, du Depp, komm nach Hause, ein Bus nach Reykjavík wird doch wohl fahren, was soll ich hier mit deinem Kind, willst du bis Weihnachten fortbleiben und dieses verlassene Geisterdorf für Touristen flottmachen? Nur damit die dann Champagnerpartys in den Wellblechhäuschen feiern können, in denen unsere Großmütter einst gelebt haben? Unsere Großmütter, die im Wechsel nach ihren Männern auf See und dem Fisch im Kochtopf schauten.
Meine Gedanken rasen, aber als Axel anruft und sagt, dass es weiterhin keine Flüge gebe, beteuere ich,
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