Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
alles sei in bester Ordnung. Dann verliere ich für einen Moment die Kontrolle und gebe zu, im Internet gelesen zu haben, dass es Flüge von Ísafjördur nach Reykjavík gegeben habe.
Aber nur eine Maschine, die kam gestern durch. Inzwischen sitzen hier so viele Passagiere fest, dass nur ein Bruchteil einen Platz in der Maschine bekommen hat, die es geschafft hat, durch das Unwetter durchzukommen. Hoffentlich klappt es mit der nächsten.
Konntest du nicht jemanden bestechen?, seufze ich. Wegen Helgi und so.
Sei nicht kindisch, Sunna. Wie geht es dem Jungen denn?
Er vermisst dich.
Echt?, fragt er froh.
Ja, bekräftige ich zögerlich.
Die Gedanken fangen wieder an zu rasen, als ich ein paar Zettel mit Zahlen suche, um die Abrechnung zu korrigieren. Sie sind nirgendwo zu finden. Egal, es ist ohnehin dringender, die neuen Bestellungen einzugeben. Ich wende mich den Bestellformularen zu, taste nach der Tastatur und seufze, als die Sonne mir voll ins Gesicht scheint. Dieser ewige eitel Sonnenschein, das hält doch keiner aus, er lässt meinen Bildschirm schwarz werden, Staubkörner kitzeln in der Nase, und ich niese, einmal, zweimal, dreimal.
Und dann steht er da, wie schon so oft, der Mann mit der Uhr. Kaum älter als vierzig, mit wässrigen, hellblauen Augen und aschegrauem, vom Wind durcheinandergepusteten Haar. Sein Mund ist zu einem Lächeln verzogen und sein Körper von einem ausgeblichenen, bis zu den Knöcheln reichenden Regenmantel verhüllt, der nach altem Schweiß riecht. Er grüßt höflich und umfasst seine Reisetasche fester, von der ich weiß, dass eine dieser großen runden Uhren mit weißem Zifferblatt und schwarzen Zeigern darin ist, wie sie überall in den Klassenzimmern hängen. Diese Uhr trägt er zwischen den Verlagen und Buchhandlungen der Stadt umher, der liebenswürdigste – und bei Weitem nicht der sonderbarste – Stammgast, der in der Bücherwelt Schutz gesucht hat, in der sich auch selbst ernannte Doktoren, Professoren und Gottheiten finden, Einzelgänger, die eines verbindet: Sie haben ihren Platz im Leben verloren. Manche können Geheimcodes besser lesen als Arztrezepte, andere entwickeln neue Schriften oder sagen den Weltuntergang voraus, wieder andere verschenken Zeit. Das Geräusch der Uhr mischt sich mit dem Summen des Computers: tick-tack, tick-tack, tick-tack …
Hallo Sunna, sagt er schwerfällig.
Hallo, sage ich. Trinken Sie etwas in der Cafeteria, wenn Sie möchten, aber ich glaube, heute wird niemand Zeit haben, mit Ihnen zu plaudern. Wir stecken bis über beide Ohren im Weihnachtsgeschäft.
Ich bin gekommen, um Ihnen mehr Zeit zu geben, sagt er.
Ja, von der können wir gar nicht genug bekommen, kichere ich, während er nicht einmal den Anflug eines Lächelns zeigt. Das irritiert mich, und ich erkläre, dass wir im Moment nicht die Zeit haben, um von ihm mehr Zeit annehmen zu können. Es wäre besser, wenn er in der Cafeteria einen Kaffee trinkt, sich eine Zigarre aus der Box der Brüder anmacht und wiederkommt, wenn es besser passt.
Wie Sie meinen, Sunna, sagt er. Glauben Sie denn, Kjartan könnte mir ein paar Zeitschriften organisieren?
Aber sicher, sage ich. Was macht man in seinem Alter nicht alles für ein bisschen mehr Zeit.
Als ich wenig später in die Cafeteria gehe, um mir eine Kleinigkeit zum Mittag zu machen, ist er mit einer Tasche voller titelseitenloser Magazine und Zigarren verschwunden, wie Kjartan mir erzählt, der am Schachbrett auf Stefanía wartet. Ein Geruch von Schweiß und Rauch ist geblieben. Er wird wiederkommen.
*
Hier sind also die Zettel mit den wichtigen Zahlen geblieben. Ich huste Papierstaub, klebe eine weihnachtlich rote Fensterfolie ans Fenster, was dazu führt, dass die Lichtverhältnisse nun eher an einen Puff erinnern, als ich mich wieder ans Werk mache.
Innerhalb kürzester Zeit bin ich in einem Tagtraum über meinen Mann versunken. Das rötliche Licht erweckt meine Hormone zum Leben, mich dürstet nach ihm, den ich in den letzten Jahren in mich hineingetrunken habe.
Vielleicht liegt es daran, dass der Kaffee, den ich zum Mittagessen getrunken habe, in meinem Magen rumort. Doch den trinke ich eigentlich jeden Tag. Für einen Augenblick ist mir, als sei Axel nur noch eine Erinnerung, ein flackernder Schatten in der Vergangenheit. Was, wenn er nie zu mir zurückkommt? Was würde ich nicht dafür geben, jetzt meine Nase an seine Kehle legen zu können, ihn von oben bis unten zu küssen, mit flachen Händen über seine
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