Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
nicht das Grinsen, das mich dazu bewegte, ihr zuzuhören. Sie hatte ähnliche Erfahrungen gemacht wie ich, und ich spürte, wie viel ihr daran lag, mich vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ich hoffte zumindest, dass es die Aufrichtigkeit in ihren Augen war oder die Wehmut in ihrer Stimme und nicht das verlockende Angebot, das sie mir nun machte: Wenn deine Mutter nicht kommt, könnten wir zusammen Weihnachten feiern. Wäre das nicht fantastisch? Wir könnten machen, was wir wollen, du musst dich nur trauen. Dafür verbiete ich auch Benni, mich über Weihnachten zu besuchen, dann wären wir nur zu zweit. Ich weiß, dass du das willst. Gib dir einen Ruck, bitte!
Und ich gab mir einen Ruck.
Erst jetzt kommt mir der Gedanke, ob sie sich das vielleicht nur ausgedacht hat, um sich keine neue Unterkunft suchen zu müssen. Wenn dem wirklich so war, könnte ich ihr nie vergeben. Was denke ich denn da? Allein der Gedanke sorgt dafür, dass mein Blut schneller fließt, sich Scham in meinen Adern verteilt.
Wir hakten uns unter, gingen zum Tresen, wo sie in perfektem Spanisch um die Rechnung bat, und genossen es, so weit von allem fort zu sein, das uns bestimmte, dann erschien in der Küchentür ein pummeliges Mädchen mit einer Seidenschleife im Haar und sagte Hallo.
Arndís grüßte zurück, und sie tauschten freundlich ein paar Worte auf Spanisch aus. Beide sprachen schnell, so dass ich nicht alles verstand, aber wie mir schien, redete das Mädchen über ihr pastellblaues, langärmeliges Kleid, wahrscheinlich war es selbst genäht. Ich sah sie an, sie hatte unglaublich schöne Augen. Groß und ruhig glänzten sie sehr dunkel in ihrem weißen Gesicht, funkelnde Sterne über einem majestätischen Lächeln. Als das Lächeln sich bis zu ihren Grübchen ausweitete, sah ich zwei Reihen von stumpfen Zähnen. Sie schien sowohl jünger als auch älter als wir.
Woher kennst du sie?, fragte ich Arndís, als wir draußen waren.
Ich komme öfter hierher, der Laden ist so günstig. Und quatsche dann ab und zu mit ihr, sie putzt und kümmert sich für ihre Verwandten um die Buchhaltung, erklärte Arndís. Sie hat ganz schön was durchgemacht, ist illegal aus Marokko eingewandert und hier in dem Imbiss bei ihren Cousins untergekommen. Nett, oder?
Doch, klar, sagte ich, wunderte mich wieder einmal über die Widersprüche in Arndís’ Charakter und fragte mich, wann sie diesen Ort entdeckt hatte, wo wir doch die allermeiste Zeit zusammen verbrachten.
Sunna, du bist wirklich süß, sagte Arndís beschwingt. Dein Kopf glüht ja!
Sie lachte so rein und klangvoll, wie nur sie es konnte, und umarmte mich. Sagte, dass ich auf so charmante Weise verrückt sei. Ich sagte: Du auch.
*
Dunkelheit hat sich über das Land gelegt, als ich das Hafencafé verlasse. Kalte Windböen schneiden mir in die Wangen, während ich nach meinen Handschuhen suche und mich darüber ärgere, dass ich zu anständig gewesen bin, um das Verlagsauto zu nehmen.
Die Gegend ist wirklich trostlos: Die Straßenbeleuchtung erhellt eine Reihe von Hafenbaracken, ein Mann hantiert mit einer Laterne auf einem kleinen Motorboot, das auf den Wellen schaukelt, während viel zu selten für diese Tageszeit auf der Straße ein Auto vorbeikriecht.
Ein Kälteschauer überläuft mich, als ich losgehe: Der Mond ist bereits aufgegangen, ich gehe schneller in Richtung der Schiffe, die im Trockendock stehen und das Meer überragen wie Berge mit langen Schatten. Hoffentlich fährt vom Lækjartorg ein Bus zu Helgis Schule. Ich höre ein blechernes Geräusch, als hätte jemand auf eine Getränkedose getreten. Mein Blick schweift zu den Autos, die am Bürgersteig parken. Dort zuckt ein Schatten, nein, zwei, irgendwer ist da zwischen zwei Jeeps zugange, wahrscheinlich schnüren sie eine Plane über dem Dachgepäckträger des kleineren Jeeps fest, von dem die Geräusche kommen. Ich sehe, dass eines der Fenster mit einer im Wind knatternden Plastikplane bedeckt ist, da erscheint ein dritter Schatten auf den Schultern der anderen, der Raubvogel hat seine Beute entdeckt und schwingt sich in die Luft. Mein Herz rast. Was sind das für Männer? Irgendwelche Gastarbeiter? Oder Kriminelle, die einen Auftrag ausführen, diejenigen, vor denen die Gutmenschen sich gegenseitig auf ihren Blogs warnen? Sonderbar eigentlich, dass ich mich fürchte. Ich habe immer gedacht, Mama hätte mich zu einem mutigen Menschen erzogen, zumal ich einst ohne die geringste Sorge zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Gassen
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