Jenseits des Meeres
hätte wie Ihr.“
Megan fuhr zu ihm herum. „Wie könnt Ihr nur so träge daliegen, während das Leben Eures Bruders möglicherweise in Gefahr ist?“
Colin zuckte die Schultern. Wie hätte er auch die Schwäche erklären können, die ihn während jener vergangenen Monate in diesem dunklen Kerker heimgesucht hatte? Als er ohne Hoffnung war, jemals wieder frei zu sein. Am schlimmsten aber war die Folter. Das alles hatte Tribut an seiner Gesundheit gefordert, die schon immer recht schwach gewesen war.
„Er sagte uns, wir sollten warten. Also müssen wir das auch tun.“
Der Fluch, der Megan über die Lippen kam, hätte wohl sogar die Gefängniswärter erschüttert. „Von mir aus mögt Ihr ja warten.“ Sie ging zu den angebundenen Pferden und holte Säbel sowie Dolch hervor.
Colin setzte sich auf. „Was wollt Ihr tun?“
Sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihn an Kieran erinnerte. „Ich beabsichtige nachzusehen, weshalb Euer Bruder noch nicht zurückgekommen ist.“
„Er hat uns doch etwas anderes befohlen.“
Einen Moment lang war Colin hin und her gerissen. In all den vielen Jahren wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, sich Kieran zu widersetzen. Sein älterer Bruder war ein Krieger und in der Kunst des Tötens ausgebildet. Colins Ausbildung dagegen sah ganz anders aus.
Er beobachtete, wie Megan sich den Waffengürtel umschnallte und den Säbel in die Scheide steckte. Den Dolch verbarg sie unter ihrem Gewand. Als sie danach im Wald verschwand, wartete er noch einen Augenblick und holte dann ebenfalls Waffen hervor. Danach ritt er eilig los, um Megan einzuholen.
Als die beiden sich der Lichtung näherten, hörten sie zornig erhobene Stimmen. In der Nähe eines Baumes sah Megan Kieran auf dem Boden liegen. Die Hände hatte man ihm auf dem Rücken gefesselt. Sein Hemd war blutdurchtränkt.
Ein Mann stand wütend über ihm. „Sagt uns sofort, wo sich Euer Bruder befindet. Andernfalls werdet Ihr sterben.“
„Dann tötet mich doch“, entgegnete Kieran.
Der Mann trat immer wieder auf ihn ein, bis einer der anderen ihm die Hand auf den Ärmel legte. „Hör auf damit. Wenn er tot ist, nützt er uns nichts mehr. Sein Bruder kann nicht sehr weit sein. Wir werden eben die Umgebung absuchen, bis wir ihn finden.“
Megan bemerkte Colins schmerzerfüllten Blick. Tröstend und warnend zugleich legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Ich weiß, wie Ihr leidet“, flüsterte sie. „Obgleich Eurem Bruder vermutlich noch weitere Qualen zugefügt werden, wäre es sinnlos, jetzt schon auf die Lichtung zu stürmen. Dort befinden sich zu viele Gegner. Wir müssen abwarten.“
Colin nickte zustimmend, doch sie merkte, welche Überwindung es ihn kostete.
Megan und Colin beobachteten, wie mehrere Soldaten aufsaßen und dann in den Wald ritten. Bald verklangen die Hufschläge. Nun waren nur noch zwei Männer übrig, die ihren Gefangenen bewachten.
„Jetzt?“ fragte Colin.
Megan schüttelte den Kopf. „Wir müssen noch eine Weile warten.“
Der Soldat, der Kieran so brutal getreten hatte, war groß und kräftig. Megan hatte bemerkt, wie seine Augen bei jedem seiner schrecklichen Tritte befriedigt aufgeleuchtet hatten. Er hielt einen Säbel in der Hand, und Megan hegte keinen Zweifel, wessen Blut daran klebte. An seiner Taille blitzte das Heft eines Dolches. Eine Peitsche baumelte an seinem Gürtel.
Der zweite Wächter kaute genussvoll. Von dem Mann, der gefes-selt und blutend in seiner Nähe lag, nahm er keinerlei Notiz. Ein Säbel steckte in der an seiner Taille hängenden Scheide. Seinen Dolch benutzte er zum Zerteilen seiner Mahlzeit, und danach rammte er ihn in die Borke eines Baumes.
„Wartet hier“, raunte Megan Colin zu, nachdem sie die Lage genau geprüft hatte. „Sorgt dafür, dass Ihr stets in Deckung bleibt. Wenn ich auf der anderen Seite der Lichtung bin, gebe ich Euch ein Signal. Bewegt Euch nicht von der Stelle, bevor Ihr die Wächter fortgehen seht. Dann lauft zu Kieran, und zerschneidet seine Fesseln.“
„Weshalb sollten die Wächter so dumm sein fortzugehen?“
Megan bedachte Colin mit einem flüchtigen Lächeln. „Das habe ich mir noch nicht überlegt, doch es wird mir schon etwas einfallen.“ Und bevor Colin noch Einwände zu erheben vermochte, war sie bereits fort.
Megan huschte von Baum zu Baum und kroch gelegentlich durch das Unterholz, um nicht gesehen zu werden. Als sie endlich die gegenüberliegende Seite der Lichtung erreicht hatte, hockte sie sich auf den Boden und
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