Jenseits des Meeres
spürte Megan in dem Kind eine verwandte Seele.
Von ihrem Söller aus sah sie James aus den Stallungen kommen. Ihr fiel auf, dass sein Schritt forsch und James selbst zielbewusst zur Spülküche unterwegs war. Offenbar beabsichtigte er, wieder die Dienstbotentreppe zu benutzen. War das für ihn bequemer, oder wollte er aus einem anderen Grund nicht gesehen werden?
Megan schalt sich wegen ihres Argwohns. Diese Leute waren schließlich Kierans und Colins Freunde. Ich muss meine misstrauische Natur besser beherrschen, ermahnte sie sich.
12. KAPITEL
Vom Fenster aus beobachtete Kieran, wie Megan Bridget in den Sattel half. Padraig, der gebeugte alte Stallmeister, der über mehr als drei Generationen für die Familie O’Mara gearbeitet hatte, stand neben dem Pferd und hielt die Zügel.
Zwei Tage lang hatte Megan auf Lady Katherine einreden müssen, bis diese ihr höchst widerstrebend die Genehmigung erteilt hatte, dem Kind das Reiten zu gestatten. Mit großem Stolz schaute Kieran jetzt zu, wie seine kleine Nichte kerzengerade im Sattel saß.
Die Hüfte an die Fensterbank gestützt, verschränkte er die Arme vor der Brust und lächelte bei Megans Anblick. Sie trug ein sonnengelbes Gewand und rief Bridget Anweisungen zu. Das Kind übernahm die Zügel und ließ die Stute im Kreis herumgehen.
Die Tür wurde geöffnet, und Kieran sah seinen Bruder hereinkommen. „Ich finde es gut, dass die beiden sich so prächtig verstehen“, bemerkte dieser und trat näher ans Fenster.
„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Kieran machte ein finsteres Gesicht. „Mutter ist besorgt wegen Megans Einfluss auf die Kleine. Sie fürchtet, als Nächstes wird Megan sie unterweisen, einen Säbel zu schwingen.“
Beide Brüder lachten.
Colin wurde wieder ernst. „Das wäre ja auch nicht das Schlechteste, wenn Megan sie diese Kunst lehren könnte.“
„Wenn die Mönche dich jetzt hörten, würden sie dich aus ihrer Gemeinschaft ausschließen“, meinte Kieran lachend.
„Was ebenfalls nicht das Schlechteste wäre.“
Erschrocken guckte Kieran seinen Bruder an, der sich jetzt abwandte. „Was liegt dir denn auf dem Herzen?“
„Dies hier.“ Colin hielt eine Pergamentrolle hoch.
Kieran überflog das Schreiben. „Der Bischof will eine Abordnung entsenden, um dich daheim willkommen zu heißen?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Weshalb habe ich das Gefühl, du wärst darüber nicht glücklich?“
Colin zuckte die Schultern und vermied es, Kieran anzublicken. „Ein Jahr war ich fort“, murmelte er. „Ich hatte gehofft, hier auf Kastell O’Mara würde mir mehr Zeit bleiben, bevor ich ins Kloster zurückkehre.“
„Nimm dir doch die Zeit, die du brauchst.“
„Der Bischof wird wollen, dass ich mit der Delegation zurückkomme.“
„Es ist doch gleichgültig, was der Bischof will. Was ist dein Wunsch, Colin?“
Colin schaute dem kleinen Mädchen zu, das in seinem Sattel auf und nieder hüpfte, während das Pferd eine schärfere Gangart aufnahm. Die Hände hielt er zu Fäusten geballt. „Du wirst mich für verrückt halten.“
Kieran legte seinem Bruder den Arm um die Schultern. „Erzähl’s mir trotzdem.“
„Auf unserer ganzen Flucht hatte ich ständig Angst“, antwortete Colin bekümmert. „Und ich war krank und schwach. Dennoch fühlte ich mich nie lebendiger als zu dieser Zeit. Die Schottin ...“, er guckte jetzt zu der Gestalt, die Bridget Ermunterungen zurief, „... hat sich mir nicht untergeordnet, weil ich ein Mann war, und sie behandelte mich auch nicht wie einen Weichling. Wir waren ... gleichberechtigt. Kannst du das verstehen?“
„Durchaus.“
„Hätte ich die Möglichkeit, würde ich alles noch einmal tun, vorausgesetzt, du und Megan wären meine Begleiter. Und deshalb weiß ich, dass ich verrückt sein muss.“
Kierans Lippen umspielte ein schwaches Lächeln. „Das habe ich ja schon immer von dir vermutet.“
„Siehst du? Ich bin verrückt.“
„Du bist ein O’Mara! So einfach ist das. Wir sind eben keine gewöhnlichen Männer.“
„Doch ich bin nicht wie du und Vater. Ich war stets kränklich, und Vater meinte, mein Heil läge einzig darin, Gott zu dienen.“ „Colin, es gibt viele Wege, ihm zu dienen“, erklärte Kieran leise, „und jeder Mensch muss seinen eigenen Weg finden.“
Während er zum Schreibtisch ging und dort ein Kontenbuch aufschlug, blieb Colin am Fenster stehen. „Falls du unsere Abenteuer noch einmal erleben könntest, würdest du es dann tun?“
„Nein“,
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