Jenseits des Mondes
anderen Namen als Ellspeth anzusprechen. Ich habe an dich immer nur als Ellspeth gedacht. Als das Ende der Zeit begann, habe ich beschlossen, herabzusteigen und dir zu helfen. Obwohl ich seit Noahs Tagen nicht mehr auf der Erde war.«
Bei den Worten fiel mir die Kinnlade herunter. »Seit Noahs Tagen?«
Das belustigte Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Ja, Ellspeth. Ich war hier, als die Engel fielen und die ersten Nephilim erschaffen wurden. Ich war hier zu Anbeginn.«
Neunzehn
R afe begann seine Geschichte, als hätte er immer schon vorgehabt, sie mir irgendwann einmal zu erzählen. Wobei »immer schon« bei ihm natürlich eine ganz neue Bedeutung annahm.
»Zu Anbeginn der Zeit sandte Gott zweihundert Engel mit einem ganz besonderen Auftrag auf die Erde. Sie sollten die Menschheit leiten, sie gegen die Gefahren des Lebens auf der Erde wappnen – und gegen die in ihren eigenen Seelen«, fügte er hinzu.
Das kam mir bekannt vor. Teile davon hatte ich bereits in Genesis und im Buch Henoch gelesen. Aber sie bloß zu lesen war etwas ganz anderes, als sie von jemandem zu hören, der tatsächlich dabei gewesen war.
»Als die Zweihundert auf die Erde kamen, angeführt von ihrem Obersten Semjaza, waren sie verzaubert von der Schönheit der Menschen. Und wie hätte es anders sein sollen? Schließlich waren auch sie nach Seinem Ebenbild erschaffen. Aus ihnen leuchteten Reinheit und Unschuld, die auf die Engel eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübten. In ihnen erwachte das Verlangen, die Menschen all ihre Geheimnisse zu lehren. Geheimnisse über die Erde und über ihre eigene innerste Natur, die zu teilen Gott den Engeln streng verboten hatte. Er glaubte nicht, dass Seine noch jungen Geschöpfe schon reif seien für dieses Wissen. Doch die Engel widersetzten sich Seinem Befehl. Sie lehrten die Menschen, in den Sternen zu lesen und den Zyklus des Mondes zu verstehen. Sie brachten ihnen bei, wie sie das Land bestellen und Pflanzen zu ihrer Ernährung anbauen konnten. Sie schulten sie im Gebrauch des Geldes. Und Asael, einer der Obersten unter Semjaza, wagte es sogar, ihnen das bestgehütete Geheimnis von allen zu offenbaren.«
»Und welches war das?«
»Das Geheimnis des Krieges. Asael lehrte die Menschen die Kunst der Kriegsführung.«
»Krieg? Wieso sollten Engel über so etwas überhaupt Bescheid wissen?«
»Gott hat all seinen Geschöpfen die Wahl zwischen Licht und Dunkel, zwischen Gut und Böse gegeben – auch den Engeln. Fällt die Wahl auf das Böse, dann ist Krieg die Folge. Asael wurde rasch zum Meister. Und niemand fand ein solches Vergnügen daran wie er.« Rafe sprach den Namen seines gefallenen Exkollegen mit spürbarem Abscheu aus.
»Diesen zweihundert Engeln bereitete es eine ungeahnte Freude, ihre Geheimnisse mit den Menschen zu teilen. Sie berauschten sich daran – fast war es ihnen, als wären sie selber Götter. Doch dabei beließen sie es nicht. Sie gingen noch weiter.« Rafe hielt inne.
»Was haben sie denn noch gemacht?« Ich stellte die Frage eher, um ihn zum Weiterreden zu animieren. Ich konnte mir den Rest schon denken, wollte es aber aus Rafes Mund hören. Aus erster Hand, sozusagen.
»Bedenke, dass die Engel von der Schönheit der Menschen verzaubert waren. Bald schon gingen sie Beziehungen mit den Menschenfrauen und -männern ein. Und sie zeugten Kinder mit ihnen, die halb Menschen, halb Engel waren. Die Nephilim.«
»So wie mich.«
»So wie dich. Und doch auch nicht wie du.« Sein typisches Rafe-Lächeln blitzte auf. »Niemand ist wie du, Ellspeth.«
Er holte tief Luft, und schon war jede Spur von Belustigung wieder aus seinem Gesicht verschwunden. Es war nicht zu übersehen, dass es ihm schwerfiel weiterzuerzählen.
»Meine Brüder und Schwestern im Himmel sahen dem Treiben der Zweihundert zu. Wir waren entsetzt darüber, dass sie so unverhohlen Seinen Willen missachteten. Für wen hielten sie sich, dass sie Seine Geheimnisse preisgaben? Das stand ihnen nicht zu. Und wie konnten sie es wagen, sich mit den Menschen zu vermehren? Aber Gott tat nichts. Zusammen mit Gabriel, Michael und Uriel trat ich vor Ihn. Wir wiesen Ihn auf den Ungehorsam Seiner Engel hin und beklagten ihr gotteslästerliches Tun. Dann wagten wir es, Ihn zu fragen, was Er dagegen zu tun gedenke.« Rafe verstummte, scheinbar ganz in der Erinnerung verloren.
Sein Schweigen dauerte so lange, dass ich schließlich beschloss, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen. »Was hat Gott gesagt?«
»Er
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