Jenseits des Mondes
Hungersnöten. Und davon steht sehr wohl was in –«
Wieder fiel er mir ins Wort. »Der Offenbarung. O Gott, und was machen wir jetzt?«
Ich schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. »Ich habe uns Verstärkung mitgebracht.«
»Mit ›Verstärkung‹ meinst du hoffentlich nicht Ruth. Nichts für ungut, aber …« Michael machte ein skeptisches Gesicht. Offenbar glaubte er nicht, dass Ruth außer für Nachforschungen sonst noch zu irgendetwas gut sein konnte.
»Nein, ich habe jemanden mitgebracht, der ein bisschen mehr auf dem Kasten hat als Ruth.« Ich drehte mich zu den Bäumen um, die an der Grenze zu Michaels Grundstück standen, und flüsterte laut: »Rafe!«
Rafe tauchte zwischen den Bäumen auf. Mit seiner kräftigen Statur und den dunklen Haaren sah er immer noch verteufelt gut aus, aber seine engelsgleiche Schönheit war verschwunden. Auf der Fahrt zu Michael hatte er wieder seine menschliche Gestalt angenommen. In seinem Karohemd und den abgewetzten Jeans wirkte er wie ein ganz normaler Schüler.
Die beiden musterten einander von Kopf bis Fuß. Es war ein bisschen merkwürdig mit anzusehen, wie sich die zwei Jungs in meinem Leben – wenn man sie überhaupt als Jungs bezeichnen konnte, schließlich waren sie nicht menschlich – gegenseitig abschätzten.
Auf einmal war jeder Muskel in Michaels Körper angespannt, als mache er sich für einen Kampf bereit. Ich hatte meine Umarmung etwas gelockert, hielt ihn aber immer noch fest. Die nächsten paar Minuten waren entscheidend, und es war von größter Wichtigkeit, dass Michael mir vertraute. Ich hatte gewusst, dass es schwierig werden würde. Der Letzte, der versucht hatte, uns davon zu überzeugen, dass er uns helfen wolle, war Ezekiel gewesen. Und jetzt stand ich hier und setzte ihm irgendeinen wildfremden Typen vor die Nase.
»Wer ist das?«, fragte Michael mit genauso viel Argwohn, wie ich erwartet hatte.
»Das ist Rafe. Wir haben uns bei der Nothilfe für die Erdbebenopfer kennengelernt.«
Michaels Wut kochte sofort über, er ließ mich gar nicht erklären. »Wieso schleppst du mitten in der Nacht irgendeinen Fremden an? Ausgerechnet jetzt?«
»Weil er nicht einfach irgendein Fremder ist !«
Michael wehrte sich gegen meine Umarmung und machte sich schließlich von mir los. »Ach ja? Ich habe ihn jedenfalls noch nie im Leben gesehen. Wer ist das, Ellie?« Er klang wütend, aber auch ein bisschen verunsichert.
Ich antwortete nicht. Ein Bild sagte bekanntlich mehr als tausend Worte. Wenn wir Michael ins Boot holen wollten, musste er Rafe so sehen, wie er wirklich war, und er musste die entscheidenden Worte aus seinem Engel-, nicht aus seinem Menschenmund hören.
Ich nickte Rafe zu. Der Augenblick war gekommen. So wie zuvor bei mir schüttelte Rafe sich unmerklich. Wieder wurde durch die Bewegung ein Nebel schimmernder Teilchen aufgewirbelt, fast wie Goldstaub. Als er sich gelegt hatte, war der Teenager verschwunden, und an seiner Stelle stand der Engel Raphael.
Michael war wie erstarrt. Rafe sagte nichts, er wartete, dass ich die Führung übernahm. Ich wusste, dass ich jetzt die Frage beantworten musste, die ich zuvor ganz bewusst unbeantwortet gelassen hatte.
»Michael. Rafe ist ein Engel. Und kein gefallener.«
Einundzwanzig
I ch hatte noch nie erlebt, dass es Michael wegen irgendetwas die Sprache verschlagen hatte, aber bekanntlich gibt es ja für alles ein erstes Mal.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und setzte zu einer Erklärung an. »Michael, ich weiß, dass es dir schwerfällt, jemandem zu vertrauen, nach allem, was mit Ezekiel passiert ist. Aber ich garantiere dir, Rafe ist nicht wie Ezekiel. Kein bisschen. Er will uns wirklich helfen.«
Ich hielt inne, gespannt, wie Michael reagieren würde. Er sah mich schweigend an, als wäge er jedes meiner Worte und jede Geste genau ab. Er schien noch unschlüssig zu sein.
»Rafe hat sehr viel geopfert, um hierherzukommen. Seine Leute –« Aus irgendeinem Grund scheute ich mich, das Wort »Engel« in den Mund zu nehmen – »dürfen eigentlich keinen Kontakt zu uns hier auf der Erde aufnehmen. Sie sollen sich nicht in unsere freien Entscheidungen einmischen. Aber jetzt steht so viel auf dem Spiel, dass er sein eigenes Wohlergehen aufs Spiel setzt, um uns zu helfen, damit wir unsere Bestimmung erfüllen können.«
Michael sagte immer noch nichts. Hilfesuchend schielte ich zu Rafe hinüber.
Zum Glück sprang er mir bei. »Ellspeth sagt die Wahrheit, Michael. Indem ich zu euch gekommen bin,
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