Jenseits des Mondes
hinlegen.
»Fürs Erste.« Rafe deutete auf die Wiese, um das Thema zu wechseln. »Hier werden wir üben. Jede Nacht, bis es so weit ist.«
Jetzt endlich wurde Michael lebendig. »Alles klar. Zeig uns, wie man sie fertigmacht.«
Rafe ignorierte Michaels aufgesetzten Heldenmut. »Keiner von euch wird je dazu in der Lage sein, sie durch reine Körperkraft zu besiegen. Vergesst nicht: Sie sind reine Engel, ihr dagegen nur halbe, sie sind also zweimal so stark wie ihr. Ihr fliegt schnell, doch sie fliegen zweimal so schnell. Dennoch verfügt ihr über immense Fähigkeiten, und wenn ihr sie klug einsetzt, habt ihr eine Chance, die Gefallenen zu vernichten, bevor das letzte Siegel geöffnet wird. Darüber hinaus hat auch eure menschliche Seite ihre ganz eigenen Vorzüge.«
»Wenn wir schwächer sind als sie, wie sollen wir sie dann töten?«, fragte Michael ungeduldig. Offenbar wollte er jegliche Erklärungen überspringen und direkt zu Mord und Totschlag übergehen.
»Weißt du, weshalb du in der Lage warst, Ezekiel zu töten? Deinen Vater?«
Die Erinnerung daran, dass Ezekiel sein Vater war, verpasste Michaels Kampfgeist einen deutlichen Dämpfer. »Ich habe ihn auf eine Eisenstange gestoßen«, sagte er leise.
Rafes Antwort war noch leiser. Er wusste, dass es Michael viel gekostet hatte, Ezekiel zu töten, und seine Stimme war voll tiefer Anteilnahme. »Das allein hätte ihn nicht getötet, Michael. Die Gefallenen sind unverwundbar, bis auf eine kleine Schwachstelle.«
Plötzlich kam mir wieder in den Sinn, was Tamiel gesagt hatte – der Engel, den meine Eltern nach Boston geschickt hatten, um ein Auge auf uns zu haben. »Nur jemand mit Ezekiels Blut in den Adern konnte ihn töten«, platzte ich heraus.
Rafe drehte sich zu mir um. »Genau, Ellspeth. Nur der Naphil, in dessen Adern das Blut des Gefallenen fließt, kann ihn zur Strecke bringen.«
Wir mussten also das Blut eines Gefallenen in den Adern haben, wenn wir ihn umbringen wollten? Wie stellte er sich das denn vor? »Ezekiel war Michaels Vater, deshalb floss sein Blut in Michaels Adern. Aber dass wir die Kinder aller gefallenen Engel sind, die die Siegel öffnen können, ist ja wohl eine biologische Unmöglichkeit. Und wie soll sonst ihr Blut in unseren Körper kommen?«
Kaum hatte ich die Frage gestellt, als mir die Antwort von selbst einfiel. In Boston hatte Michael mir erklärt, dass Ezekiel ihn deshalb hatte aufspüren können, weil sein Blut in Michaels Adern floss, und dass Ezekiel mich aus genau demselben Grund gefunden hatte. Dass Ezekiels Blut auch in meinen Adern floss, lag ganz einfach daran, dass ich Michaels Blut gekostet hatte. Plötzlich begriff ich, was wir tun mussten, um die Gefallenen zu töten. Rafe betrachtete mein Gesicht, auf dem sich die Erkenntnis abzuzeichnen schien.
»Wir müssen irgendwie an ihr Blut kommen und es trinken.«
Michael sah mich entsetzt an. »Was? Das ist ja ekelhaft!«
Sehr ruhig und sehr klar erklärte Rafe: »Ellspeth hat recht. Ihr müsst das Blut der Gefallenen vergießen und davon kosten. Ich werde euch zeigen, wie. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Dreiundzwanzig
I ch hatte damit gerechnet, dass wir nach dieser aufregenden Nacht erst mal eine kleine Verschnaufpause einlegen würden. Dass wir vielleicht die folgenden Abende damit verbringen würden, unser Wissen über die Geschichte der Nephilim und die Prophezeiung zu vertiefen. Und dass wir mit dem richtigen Training anfangen würden, sobald wir all das verdaut hatten.
Schließlich hatte ich noch ungefähr eine Million Fragen – viel mehr, als ich Rafe bereits gestellt hatte. Ich brannte darauf zu erfahren, wie wir entstanden waren; wer unsere leiblichen Eltern waren; wie groß das Ausmaß unserer Kräfte wirklich war; was genau die Prophezeiung besagte; wie die Gefallenen tickten und was für finstere Pläne sie verfolgten; wie wir sie finden konnten; was sie von uns wollten; und vor allem: was passieren würde, wenn wir scheiterten. Die Liste meiner Fragen war endlos, und je länger ich nachdachte, desto mehr kamen hinzu. Eine Nachhilfestunde von einem Engel war genau das, was ich jetzt brauchte, und ich hoffte inständig, dass ich eine bekommen würde.
So viel dazu.
Leider standen Samstag- und Sonntagnacht keine Vorträge auf dem Programm. Kein Theorieunterricht zu später Stunde. Nur mörderisches Training – man hätte es auch als Folter bezeichnen können. Anscheinend hielt Rafe es für wichtiger, dass Michael und ich an unseren
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