Jenseits des Mondes
glaube nicht, dass es sich um eine solche Botschaft handelt, Ellspeth.«
Rafe ließ unsere Hände los und zog sich in eine entfernte Ecke der Kapelle zurück. Er schien in Gedanken versunken, sogar traurig. Oder vielleicht wollte er mir und Michael einfach ein bisschen Raum geben. Wer wusste schon, was im Kopf eines Engels vorging? Ich jedenfalls nicht.
Michael und ich waren allein. Einige Minuten lang schwebten wir schweigend vor dem gigantischen Fresko und betrachteten die Engel und Dämonen und alle Wesen dazwischen.
»Wahnsinn, oder?«, meinte Michael schließlich.
Ich wusste seinen Versuch zu würdigen, ein Gespräch anzufangen. Es war eine ganze Weile her, dass er sich die Mühe gemacht hatte. »Stimmt. Es ist toll, so nah dran zu sein.«
»Ohne die ganzen Touristen«, setzte er hinzu.
Ich nickte, und dabei fiel mein Blick auf eine Gestalt am unteren Rand des Gemäldes. Es war ein Mann, um dessen Körper sich mehrere Schlangen wanden. Sein Gesicht war von Schmerz und Furcht verzerrt, während die Schlangen versuchten, ihn in die Tiefe zu ziehen. Bei dem Anblick lief es mir kalt den Rücken herunter, aber aus unerfindlichen Gründen verspürte ich plötzlich den Drang, den Mann zu berühren. Ich flog hin, die Hand ausgestreckt.
»Was machst du da? Du darfst das nicht anfassen!« Michaels Stimme klang schrill.
»Wieso denn nicht?«, fragte ich zurück, ohne anzuhalten.
»Was, wenn der Alarm losgeht?«
»Dann projizieren wir uns einfach weg. Michael, bitte. Ich muss es tun.«
Meine Finger streiften die überraschend raue Oberfläche des Freskos. Ganz plötzlich hatte ich eine Vision, als hätte ich einen Menschen berührt statt eine Wand. Ich wusste ganz genau: Die Bilder, die ich sah, kamen direkt aus Michelangelos Kopf. Und sie waren allein für mich bestimmt.
Nachdem es vorbei war und ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, flüsterte ich: »Ich weiß jetzt, was die Botschaft ist, Michael.«
»Woher?«
»Ich habe die Figur angefasst. Das ist die Stelle, wo Michelangelo seine göttliche Vision versteckt hat.«
»Michelangelo hat eine Vision in ein Gemälde eingebaut? Und sie hat sich all die Jahrhunderte gehalten? Trotz der ganzen Restaurierungsarbeiten?«
»Ich weiß, es klingt verrückt, aber es stimmt.«
»Und was war das für eine Vision?« Er klang nach wie vor skeptisch.
»So wie dem Mann hier auf dem Bild wird es allen ergehen, wenn ein von den Gefallenen der Dunkelheit kontrollierter Auserwählter über die Menschen und die Erde richtet. So wird das Ende aussehen, wenn wir es nicht schaffen, sie aufzuhalten. Wenn wir versagen, wird die Menschheit keine zweite Chance mehr bekommen. Es wird keine Vergebung geben und keine Erlösung, außer für die, die sich den Gefallenen unterwerfen. Sie sind entschlossen, weiter über die Erde zu herrschen, weil sie wissen, dass der Himmel ihnen auf ewig verschlossen ist.«
Wir starrten den Mann an. Seine Qualen waren so greifbar, dass ich fast selbst die Feuer der Hölle auf meiner Haut brennen spürte. Ich war die ganze Zeit über nur mit mir selbst beschäftigt gewesen – ich hatte über meine Rolle nachgedacht, meine Kräfte trainiert und mir Gedanken über meine Beziehung mit dem neuerdings so launenhaften Michael gemacht. Ich hatte mir nicht einen Augenblick Zeit genommen, über die größeren Zusammenhänge nachzudenken. Erst Michelangelos Botschaft hatte mich wirklich fühlen lassen, was alles auf dem Spiel stand.
Ich sah Michael an, wild entschlossen. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Eltern und Ruth und alle, die uns etwas bedeuten, so enden wie der arme Mann da. Unsere Eltern haben sich so sehr um Vergebung bemüht, haben sie da nicht eine Chance verdient? Haben wir alle nicht eine Chance verdient?«
Michael erwiderte meinen Blick, und seine Augen quollen fast über vor Liebe für die Menschheit und für mich. »Doch, Ellie, das haben sie. Und wir auch.«
Ich nahm seine Hand und drückte sie. Vielleicht würde ich doch nicht warten müssen, bis alles vorbei war. Vielleicht würden wir uns schon vorher wieder auf unsere gemeinsame Liebe besinnen können. »Zusammen schaffen wir es.«
Siebenundzwanzig
A ls ich aufwachte, war ich von einem überwältigenden Glücksgefühl durchdrungen. Eine Minute lang erlaubte ich mir, den Augenblick noch einmal zu erleben, als Michael und ich uns in der Sixtinischen Kapelle in die Augen gesehen und an der Hand gehalten hatten. Ich fühlte mich ihm so nah
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