Jenseits des Mondes
echter Junge –, war unschwer zu erkennen, dass auch ihr Wiedersehen einen bittersüßen Beigeschmack hatte. Dies war das erste – und vielleicht auch schon das letzte – Mal, dass wir in Gegenwart unserer Eltern die Nephilim sein konnten, die wir wirklich waren.
Neunundzwanzig
N achdem unsere Eltern gegangen waren und die Versammlung der Engel sich aufgelöst hatte, wurde Michael und mir klar, dass uns noch eine Stunde bis zum Morgengrauen blieb. Eine Stunde, bevor wir ein letztes Mal in unsere Rollen als ganz normale Teenager schlüpfen mussten. Eine Stunde, bevor der Tag anbrach, der vermutlich die Entscheidung bringen würde. Eine Stunde, um allein zu sein.
»Ransom Beach«, raunte er mir ins Ohr, als wir den Platz verließen.
Ich nahm seine Hand, und wir schwangen uns ohne ein weiteres Wort in die Lüfte. Wir schlugen den Weg in Richtung Küste ein. Die steilen Klippen und zerklüfteten Felsen, die den Strand säumten, wiesen uns den Weg zu unserem geheimen Ort. Der Ort, an dem Michael mir bewiesen hatte, dass ich fliegen konnte, auch wenn ich ihm zunächst nicht hatte glauben wollen. Der Ort, an dem wir einander unser wahres Gesicht gezeigt hatten – als Engel und als Mensch.
Wir landeten auf der Klippe, die über der Bucht bis aufs Meer hinausragte. Die Luft roch scharf und nach Salzwasser. Kein Duft von der Sonne gewärmten Sandes wie bei unserem letzten Besuch. Kein klagendes Möwengeschrei. In diesem einsamen, rauen Stückchen Küste hatte bereits der Winter Einzug gehalten.
Michael und ich verschränkten unsere Finger ineinander. Zusammen gingen wir bis ganz an den Rand der steilen Klippe, die das Markenzeichen von Ransom Beach war. Dann stürzten wir uns in die Tiefe, so, wie wir es vor Urzeiten getan hatten.
Es war seltsam, wie klein die Klippe auf einmal schien, nachdem wir so viele Nächte mit Rafe in schwindelerregenden Höhen verbracht hatten. Wir landeten weich im steinigen Sand und steuerten instinktiv auf die schützende Umarmung der Felsen zu, zwischen denen wir so viele wunderschöne Stunden verbracht hatten.
Wir umarmten uns. Wir standen einfach da und hielten uns in den Armen.
»Wir waren so lange getrennt. Gefühlsmäßig, meine ich«, flüsterte ich.
»Ich weiß. Und ich habe gar keine Ahnung, warum.«
»Ich auch nicht.«
Michaels Stimme wurde heiser, als er sagte: »Dann lass uns keine Sekunde mehr vergeuden.«
Langsam glitten seine Hände meine Arme hinauf, dann durch mein Haar. Er sah mir in die Augen und strich mit der Fingerspitze über mein Kinn, meine Wange, meine Lippen. Dann endlich beugte er sich zu mir herab, und unsere Lippen trafen sich. Die zarte Berührung jagte mir einen Schauer über den Rücken, und ich wollte mehr.
Ich küsste ihn mit wildem Verlangen. Er reagierte sofort, teilte meine Lippen und umschlang meine Zunge mit seiner. Mein Atem wurde schwer, als mir klar wurde, was gleich passieren würde. Wir hatten jetzt keinen Grund mehr, uns zurückzuhalten.
Ich streifte seine Zunge mit meiner, dann fuhr ich mit ihr an seinen Schneidezähnen entlang. Er tat dasselbe bei mir. Unser Blut vermischte sich, und eine vertraute Wärme breitete sich in mir aus. Es zog mich näher und näher zu ihm hin. Meine Finger zerwühlten sein Haar, und meine Lippen pressten sich auf seine, und plötzlich verwandelte sich die Wärme in ein gleißendes Licht. Das Licht einer Vision.
Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie das Licht schwächer wurde, so dass ich ganz allmählich etwas erkennen konnte. Wir gingen an einem Strand entlang. Er erinnerte mich an Ransom Beach, nur dass der Sand weiß und fein war und die Wellen sanft an die Küste spülten, statt sich mit lautem Getöse zu brechen. Michael und ich hielten uns an den Händen, und auf unserer Brust standen Zeichen aus Licht geschrieben. Buchstaben einer unbekannten Sprache.
Es sah aus wie in einem meiner Träume. Oder war es eine Vision der Zukunft?
Dann wurde es plötzlich dunkel, und die Szene veränderte sich. Ich sah Fetzen aus Michaels Erinnerung, aber es war keine richtige Vision, eher eine Folge unzusammenhängender Bilder, so wie das, was ich sah, wenn ich zufällig einen Fremden berührte. Da war Michael nach seinem letzten Sieg zusammen mit seinem Trainer. Ich konnte Coach Samuels Gesicht nicht sehen, aber ich hörte, wie er Michael mit Lob überschüttete und ihn vor seinen Teammitgliedern und überall in der Stadt als großes Talent pries, dem eine glorreiche Zukunft bevorstand. In glühenden Farben
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