Jenseits des Mondes
Normalerweise war sie immer so unerschütterlich. »Stattdessen sind wir dir bloß eine Last.«
Ich verstand, was sie meinte, auch ohne dass sie es aussprach: Sie und mein Dad hatten Angst, dass die Gefallenen sie als Köder benutzen würden.
»Keine Panik, Mom. Michael und ich können euch beschützen. Rafe hat uns ein paar ziemlich krasse Sachen beigebracht.«
Trotz der gedrückten Stimmung musste mein Dad lachen. »Meine wunderhübsche, kluge, tollpatschige Tochter will uns beschützen? Das möchte ich sehen.« Ich wusste, dass er nur Spaß machte.
»Du musst dich um uns nicht kümmern, Ellie«, fügte meine Mom hastig hinzu. »Die anderen werden auf uns aufpassen. Sie werden dafür sorgen, dass wir nicht in Gefahr geraten.«
»Und auf dich werden sie auch ein Auge haben, Liebes. Sie können nicht viel tun, weil die Prophezeiung verlangt, dass du und Michael allein die Gefallenen vernichtet, aber sie können euch Ratschläge geben und uns Nachrichten von euch überbringen. Obwohl ich nicht weiß, wie viel das nützen wird.« Mein Dad wollte mir unbedingt Hilfe anbieten, ganz egal, wie bescheiden sie auch war.
Das war also der Grund, weshalb sich die Gefallenen des Lichts hier versammelt hatten. Zum Schutz unserer Eltern. Ich hatte mich schon gewundert, zumal sie uns im Kampf gegen die Gefallenen der Dunkelheit ja nicht würden helfen können. Rafes Bemerkung von vorhin zum Trotz hatte ich meine Zweifel daran gehabt, dass sie bloß hier waren, weil sie der Auserwählten die Hand schütteln wollten.
»Wirklich. Mach dir um uns keine Sorgen, Liebes«, erklärte meine Mutter. »Konzentrier dich ganz auf deine Aufgabe.«
Fast hätte ich laut gelacht. Das klang wie eine ihrer berühmten Motivationsreden, in deren Genuss sie mich immer vor Klassenarbeiten kommen ließ. Aber als ich sah, wie erwartungsvoll mich die umstehenden Engel anblickten, blieb mir das Lachen im Halse stecken.
Ich ließ den Kopf hängen. »Hoffentlich enttäusche ich euch nicht.«
Meine Mutter hob mein Kinn. »Wir wissen, dass du es schaffen wirst, Liebes. Du wurdest dafür geboren.«
Das Wort »geboren« löste etwas in mir aus. Ich wusste, dass ich vielleicht nie wieder die Gelegenheit bekommen würde, die Frage zu stellen, die mir seit Wochen auf der Seele brannte. »Wer sind meine Eltern?«
Meine Eltern tauschten einen Blick, als bäten sie beim jeweils anderen um die Erlaubnis, das lang gehegte Geheimnis lüften zu dürfen. Mom, wie immer die Gefasstere von beiden, ergriff schließlich das Wort. »Deine Mutter war eine wunderschöne Menschenfrau namens Elle.«
»Elle?«
Meine Mom lächelte. »Ja. Ihr zu Ehren haben wir dich Ellspeth genannt.«
Das gefiel mir. »Wie war sie denn so?«
»Wir kannten sie nur kurze Zeit. Sie hatte lange, glatte blonde Haare, wie deine, bis auf die Farbe. Sie war klug und tapfer – und sehr jung.«
»Warum sagst du, dass sie tapfer war?«
»Sie hat dich zur Welt gebracht, obwohl sie wusste, wer und was du bist. Sie hat nicht eine Sekunde gezögert, dich zu behalten.«
Beim Gedanken an meine leibliche Mutter füllten sich meine Augen mit Tränen. Obwohl ich die Antwort schon kannte – Tamiel hatte es mir in Boston verraten –, musste ich die nächste Frage dennoch stellen. »Und wo ist sie jetzt?«
»Sie ist bei deiner Geburt gestorben, Liebes. Es tut uns so leid.« Ich sah meiner sonst so stoischen Mutter an, dass es ihr unsagbar schwerfiel, mir das zu sagen.
»Und was ist mit meinem leiblichen Vater? Er ist ein gefallener Engel, oder?«
»Ja, das stimmt.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Einer, der allemal angenehmer war als die Alternative. »Ist er hier? Ist er einer von den Gefallenen des Lichts, wie ihr?«
»Nein, Liebes, das ist er nicht«, sagte mein Dad rasch. »Aber wenn es dich irgendwie tröstet: Ich glaube, er hat deine Mutter geliebt.«
Mom überlegte kurz, bevor sie hinzufügte: »Auf seine Weise.«
Immer mehr Fragen ballten sich in meinem ohnehin schon überlasteten Kopf zusammen. Aber als ich in die Gesichter meiner Eltern blickte, sah ich darin solchen Kummer und Schmerz, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie zu stellen. Ich wollte die wenigen kostbaren Minuten, die ich mit ihnen hatte, nicht verschwenden, indem ich über meine leiblichen Eltern sprach. Sie waren meine Eltern. Ich zog sie in meine Arme und hielt sie ganz fest.
Aus dem Augenwinkel sah ich Michael bei seinen Eltern stehen. Obwohl keiner von ihnen eine Träne vergossen hatte – Michael war halt ein
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