Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
aufflogen. Weiter und immer weiter, vorbei an sonnenverbrannten Stoppelfeldern und an bereits umgepflügten Äckern in ihrem nackten Braun, vorbei am Waldrand, der aus den Augenwinkeln zu einem dunklen, verwackelten Band verschwamm, all die Meilen hinter Shamley Green hinauf.
»Hoo«, schnaufte sie, mehr bedauernd denn glücklich, dass sie am Ziel angelangt war, und zügelte das Tier, ließ es seitwärts auslaufen. »Hoo, gutes Mädchen, braves Mädchen.« Sie sprang ab und band die Zügel um den Ast eines Haselnussstrauches.
Grace hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich umzuziehen. Während Ben aufsattelte, war sie noch in ihrem Sommerkleid in die Stiefel gestiegen, hatte Handschuhe und Gerte ergriffen und sich dann gleich auf ihr Pferd geschwungen. Ebenso ungeduldig schritt sie nun aus, auf die Eichen und Kastanien zu, mit den Stechpalmen dazwischen und den dunkelrosa Lichtnelken am Boden. Mit ihrer Gerte bahnte sie sich eine Schneise durch den von Farn und Gräsern fast völlig überwucherten Pfad und erschauerte, als die Kühle des Waldes ihren nass geschwitzten Rücken streifte und sich auf ihre glühenden Wangen legte.
Schwer atmend blieb sie einen Augenblick lang stehen und blickte auf das Grün vor sich. Dieses Grün, das sich im Mai eines jeden Jahres in einen See von Glockenblumen verwandelte. Dann ging sie weiter, mit schweren, zähen Schritten, als wären ihre Stiefel voller Sand. Ziellos ging sie dahin, mit gesenktem Kopf, als hätte sie hier etwas verloren und fände es nicht.
Grace, der gute Mensch von Surrey.
Ihr Atem ging heftiger, und mit einem wütenden Stöhnen holte sie mit der Gerte aus und schlug um sich, sodass Blätter und Stängel durch die Gegend flogen, wieder und wieder; sie konnte nicht genug bekommen von diesem Taumel, dieser Lust an der Zerstörung.
Ich bin kein guter Mensch – seht ihr das denn nicht?! , brüllte es in ihr. Die Grace, die ihr alle kennt, ist nur ein Teil von mir!
Sie hatte es immer gewusst, von klein auf, dass etwas Wildes, ganz und gar nicht Liebliches in ihr schlummerte. Eine Unbeherrschtheit, eine Maßlosigkeit, die ihr Angst machte. Die einem dunklen Abgrund auf dem Boden ihres Seins glich, der sie zu verschlingen drohte, sobald sie sich zu nahe an seinen Rand wagte, und dessen spürbarer Hauch eines Soges sie doch faszinierte, nachgerade lockte. Der sie verwirrte, weil sie doch sonst so fröhlich war und nichts lieber tat, als aus vollem Hals zu lachen.
Rennen half, so fest und so weit, bis ihre Muskeln schmerzten und die Lungen brannten und ihr Pulsschlag in den Ohren dröhnte; es half, erst ein Pony, später ein Pferd zu irrwitziger Geschwindigkeit anzutreiben und mit dem Tilbury durch die Gegend zu rasen. Als könnte sie diesem dunklen Drang entkommen, wenn sie nur schnell genug war, und dabei gleichzeitig seinem Drängen ein wenig nachgeben, gerade so viel, dass sie sich noch sicher fühlen konnte.
Es war so schwer, ja fast unmöglich, ungezogen zu sein, wenn alle Welt sie mit einem verzückten Glanz in den Augen betrachtete und ihr sagte, wie niedlich sie doch war mit ihrem weizenblonden Haar, den nussbraunen Augen und dem strahlenden Lächeln. Ein Sonnenschein, den man einfach lieb haben musste, und die kleine Grace hatte es nicht übers Herz gebracht, irgendjemanden zu enttäuschen. Und Grace hatte schnell herausgefunden, wie weit sie ihre Wildheit hervorbrechen lassen konnte und wann sie ihr Zügel anlegen musste. Der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, ihres Vaters, der anderen Erwachsenen, wenn Grace es zu toll trieb. Sie lernte rasch, die Grenzen auszuloten, innerhalb derer sie sich gefahrlos über Regeln und Hürden hinwegsetzen konnte, ohne sich eine blutige Nase zu holen.
Doch wie konnte eines Menschen Herz so voller Liebe sein, so voller Freude und dennoch so ungebärdig, so hungrig? Wiekonnte es die Finsternis auf seinem Grund fürchten und sich gleichzeitig danach sehnen, darin aufzugehen?
Ohne Licht kein Schatten. Ohne Schatten kein Licht.
Jeremy Danvers kannte die Antwort.
Anfangs war Grace überzeugt gewesen, er mochte sie nicht, weil er nie mit ihr flirtete, kaum je lächelte und wenig Worte verlor. Bis sie bemerkte, wie er sie ansah. Ich sehe, was dort in dir verborgen liegt, Grace , hatte sein Blick gesagt. Ich sehe es, und es gefällt mir.
Jeremy kannte diese Dunkelheit, sie stand ihm ins Gesicht geschrieben, und während Grace lachte und tanzte und darauf wartete, dass Leonard spätestens nach seinem Abschluss in
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