Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
des Khediven, mit Waffen und Munition ausgerüstet, aber ohne Sold, pressten im Auftrag des Herrschers Steuern aus den Menschen des Sudan heraus; je mehr, desto besser, denn dann blieb mehr für ihre eigenen Beutel übrig. Gewaltsam und brutal gingen sie dabei vor und schraken auch vor Mord nicht zurück. Auch dann noch, als Khedive Ismail auf Druck der Briten den Sklavenhandel verbot und viele im Sudan ihrer Lebensgrundlageberaubt waren und das Land, geknechtet und leer gepumpt, in Armut und Elend versank.
Ein Mann hörte das Flehen der Menschen im Sudan. Hörte ihre Rufe nach Gerechtigkeit, nach Freiheit, nach einem Ende der drückenden Fremdherrschaft des osmanischen Ägypten: Mohammed Ahmed, der dritte Sohn eines Bootsbauers, auf einer Insel im Nil nahe Dongola zur Welt gekommen. Ein kluger Junge, ein frommer Junge, der mit neun Jahren schon den Koran auswendig kannte und die beinahe endlose, stolze Reihe seiner Ahnen aufsagen konnte. Nach dem frühen Tod seines Vaters lebte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern auf einer anderen Insel im mächtigen Fluss, auf einer Insel südlich von Khartoum, die mit ihren dichten Wäldern denen Schutz bot, die vor den Bashi-Bazuks flohen und die Türken verfluchten. Die Türken – das schloss alle Menschen mit heller Haut ein, gleich, ob Osmane, Syrer, Albaner, Europäer oder Ägypter. Die Türken, die den Sudan plünderten und ausbluten ließen; die Türken, deren Steuereintreiber nicht nur Geld zusammenrafften, sondern sich alles unter den Nagel rissen, was ihnen in die Hände fiel. Und wenn ein Dorf die Steuern nicht bezahlen konnte, nahmen sie die Frauen und Mädchen mit und behielten sie so lange zur Befriedigung ihrer rohen Lust, bis das Geld aufgetrieben war. Die Bazi-Bashuks mit ihren allzeit schussbereiten Gewehren verbreiteten Angst und Schrecken, und nichts war so sehr Sinnbild für Knechtschaft und Unterdrückung wie die drohend erhobene kurbash , die Peitsche aus Flusspferdhaut.
Der Junge Mohammed Ahmed reifte zum Manne, lernte und betete und schlug den Pfad des Glaubens ein. Ein Derwisch wurde er, ein Sufi. Wegen seiner allzu eng gefassten Auslegung des Glaubens, seinen allzu flammenden, allzu übereifrigen Anschauungen mehr als einmal von seinen Lehrern verstoßen, zog er schließlich bettelnd und predigend durch das Land.
»Schwöret den Sünden ab«, verkündete Mohammed Ahmeddas, was er einfach Den Weg nannte. »Schwöret den Sünden ab, dem Neid und dem Stolz, und versäumt nicht das Gebet fünfmal am Tag! Seid bescheiden, seid sanften Geistes und ausdauernd. Esst wenig, trinkt wenig, und besucht die Gräber heiliger Männer. Folget dem Weg, und ihr seid gerettet!«
Was Mohammed Ahmed verkündete, verstand selbst ein ungebildeter Hirte, ein einfältiger Bauer.
»Der Türke ist unersättlich«, sprach Mohammed Ahmed weiter. »Er trinkt Wein und unterdrückt andere Muslime, daher ist er kein wahrer Gläubiger! Wer sich kleidet wie ein Türke, wer lebt wie ein Türke – der ist ein Türke! Legt alles ab, was an die Sitten und Gebräuche der Türken und aller anderen Ungläubigen erinnert! Kehrt zu eurem wahren Glauben zurück, und Allahs Lohn wird euch gewiss sein!«
Wie Regen, der auf lange darbende Erde fiel, sickerten seine Worte in die Seelen der Menschen und schenkten ihnen Hoffnung. Gaben ihnen den Glauben zurück und die Zuversicht. Und sie scharten sich um ihn und hingen an seinen Lippen, hungrig nach Nahrung für ihre verletzten, geknechteten Seelen. Sie tranken seine Worte und beteten den Boden unter seinen Füßen an und nähten sich bunte Flicken auf weiße Gewänder, um sich zu kleiden wie er, der bei jeder Heimkehr von seinen Wanderungen von seinen Ehefrauen die abgewetzten Stellen seines Gewandes dergestalt ausgebessert bekam.
Er ist es , flüsterten sie sich zu, er ist es wirklich! Er muss es sein – er muss der Mahdi sein!
Der Mahdi, der Erwählte, der nach den Überlieferungen des Propheten den Glauben stärken, Gerechtigkeit bringen und die Einheit des Islam wiederherstellen würde. Mit ihm würde der Tag des Gerichts kommen und die Wiederkehr des Propheten Isa, den die Christen »Jesus« nannten.
War nicht der Name seines verstorbenen Vaters Abdullah gewesen, wie es in der Prophezeiung hieß, und gingen die Ahnenreihen seines Vaters und seiner Mutter nicht bis zu des ProphetenTochter Fatima zurück? War er nicht groß und von edler Gestalt, mit feinen Gesichtszügen wie vorhergesagt? Besaß er nicht die Lücke zwischen den
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