Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
seiner winzigen Handschrift füllte. Stephen hatte sich in Tamai tapfer geschlagen, tapferer noch als zuvor in el-Teb, und sich seine Beförderung zum Lieutenant verdient, und doch wirkte er seither verschlossener als früher. Als hinge er mit den Gedanken noch immer in den beiden Schlachten fest und als läge das, was ihn daran kettete, zu tief in ihm verborgen, als dass es an die Oberfläche gelangen und er es den Freunden in Worten mitteilen könnte.
Wirklicher Jubel wollte bei uns über beide Siege allerdings nicht aufkommen. Wir haben zu viele Männer verloren, auch wenn drei resp. neun Dutzend gegen mehrere Tausend getötete Feinde wenig erscheinen mag. Zu viele waren es vor allem angesichts der Tatsache, dass beide Schlachten im Grunde sinnlos waren. Osman Digna ist zwar ein Stück weit zurückgedrängt worden und wir können Suakin mit einer kleinen Truppenstärke wohl weiterhin halten, aber für Digna ist es nicht mehr als ein kleiner Stich, und für den Mahdi selbst allenfalls eine kleine Schramme. Sein Vormarsch ist nicht mehr aufzuhalten, und der Sudan ist für Ägypten verloren.
Deine Frage nach dem Schicksal Khartoums ist mehr als berechtigt. Es sieht nicht gut aus für die Menschen in der Stadt. Zweitausend Zivilisten und an Malaria und Ruhr erkrankte Soldaten konnte Major General Gordon wohl noch auf dem Wasserweg hinausschaffen, bevor die Telegraphenleitung nach Cairo von den Mahdisten gekappt wurde. Doch der überwiegende Teil der Bevölkerung ist innerhalb der Stadtmauern eingeschlossen, und die liegen unter heftigem Beschuss. Es erscheint einem unglaublich, dass Gladstone noch zögert, wo doch alle ihn drängen, Khartoum Hilfe zukommen zu lassen. Hier in der Kaserne ist man sicher, dass der Premier noch nachgeben wird. Nur wie und vor allem wann, das ist der entscheidende Punkt. Mit jedem Tag, der verstreicht, wird die Lage in der Stadt katastrophaler werden. Vor allem wird es mit jedem weiteren Tag schwieriger, überhaupt noch durch die Stellungen des Mahdi durchzukommen. Major General Wood rechnet offenbar damit, dass unser Regiment unter den Entsatztruppen sein wird; zumindest unterwirft er uns einem strammen Drill. Stunden wie diese, in der ich Dir schreiben kann, sind selten, und mein neuerliches Urlaubsgesuch wurde ebenfalls abgelehnt. Ich hatte gehofft, bei Deiner Examensfeier Ende Juli dabei sein zu können. Denn dass Du bestehen wirst, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Schreib mir bitte trotzdem das genaue Datum und die Uhrzeit Eurer Prüfungen, damit ich Dir und Ada dann die Daumen drücken kann. Auch wenn ich zu dieser Stunde gerade unten im Hof Dutzende Liegestütze machen sollte.
Grüß Ada von mir und Becky und Lady Norbury und Colonel Norbury ebenfalls.
Jeremy
Jeremy beschriftete den Umschlag und steckte den zusammengefalteten Brief hinein. »Hast du auch noch etwas für die Poststelle?«
»Hm?« Stephen fuhr hoch und sah ihn mit einem glasigen, abwesenden Ausdruck in den Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich habe gestern schon nach Hause geschrieben.«
»Auch an Becky?«, konnte Jeremy nicht umhin zu spötteln, während er aufstand, die hochgekrempelten Ärmel hinunterrollte und zu seinem Uniformrock griff, der über der Stuhllehne hing.
Eine feine Röte kroch über Stephens Hals. »Sehr witzig.« Er faltete sich wieder über dem Büchlein zusammen.
»Ich bring den eben hinunter«, erklärte Jeremy, schlüpfte in den Rock und schob den Stuhl an den Tisch zurück.
»Ist gut«, murmelte Stephen, bereits wieder in seine Gedanken vertieft.
Was auch immer in den nächsten Monaten noch geschehen wird , schrieb er, eines weiß ich genau: Sobald wir wieder in England sind, nehme ich meinen Abschied aus der Armee. Wenn ich auch nicht weiß, was danach werden, womit ich mein Brot verdienen soll. Und selbst wenn das bedeuten sollte, dass Vater mit mir bricht und dass er Mama, Ads und Grace zwingt, sich gegen mich zu stellen. Ich habe nur dieses eine Leben, und das will ich nicht so verbringen. Ich verliere sonst noch den Verstand. Ich kann nicht vergessen, was ich gesehen habe, vor allem nicht am Rande des Gebirges am Roten Meer, bei Tamai. Ich kann die Kinder nicht vergessen, die der Feind in den Kampf geschickt hat. Kleine Jungen, nicht älter als zwölf, manchmal vielleicht noch keine zehn Jahre alt, die wir erschießen mussten, weil sie uns sonst getötet hätten, mit einem Hass in den Augen, der schon mehr als tausend Jahre in ihnen zu lodern schien.
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