Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
gedacht.«
Der Colonel brummte ungnädig, doch in seinen Augen schimmerte es durchaus zufrieden. Sofern man bei Colonel Norbury überhaupt eine Schwäche ausmachen konnte, so waren dies seine Töchter. Nur sah er darin keine Schwäche, denn Ritterlichkeit und eine gewisse Langmut im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht gehörten zu den Tugenden seines Standes als Offizier und als Gentleman, des Standes, in den er hineingeboren worden war und nach dessen Werten er immer gelebt hatte.
Die Augen des Colonels ruhten einige Herzschläge lang auf seiner Frau, die ihm im Wagen gegenübersaß. Ungeachtet des doppelten Makels, irischstämmig zu sein und noch dazu katholisch, hatte Constance Isabel Shaw-Stewart, jung und schön und Tochter eines verdienten Generals, zu den begehrtesten jungen Ladys von Calcutta gehört. Fesche Lieutenants hatten sie umschwärmt wie Bienen einen Topf Honig. Seine zerschmetterten Knochen und die tiefen Fleischwunden, die lange nicht verheilen wollten, die Aussicht, womöglich nie wieder richtig gehen zu können, waren damals nicht gerade dazu angetan gewesen, ihr den Hof zu machen. Und dennoch – dennoch hatte sie das Werben des sechzehn Jahre älteren Colonels erhört. Hatte seinen Glauben angenommen, sich dareingefunden, Shamley Green allein zu führen und die Kinder großzuziehen, und nie hatte sie sich beklagt über seine langen Zeiten der Abwesenheit, Tausende von Meilen von ihr entfernt.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, erwiderte Constance seinen Blick und lächelte. So war es immer gewesen zwischen ihnen, eine Art blindes Verstehen, ein tiefes Vertrauen, das keinem Zwist und Zank den Nährboden bereitete. Das ohne viele Worte auskam, ohne große Gesten. Gesegnet, wem eine solche Gefährtin zuteilwurde, die ihm obendrein drei gesunde Kinder geschenkt hatte!
Des Colonels ganzer Stolz galt Grace, die in einem langen, geschlitzten Rock, unter dem sich enge Hosen verbargen, kerzengerade und sicher im Sattel saß. Die taillierte Jacke des schokoladenbraunen Reitkostüms war einer Uniform nachempfunden, und der kleine Hut ähnelte einer Kadettenkappe. Mit jedem Zoll stellte sie die künftige Gattin eines Offiziers dar, zu der sie erzogen worden war. Ganz genau wie ihre Mutter, und ebenso wie diese verstand es Grace mit sicherem Gespür, die Regeln so weit auszudehnen, dass sie ihren Kopf durchsetzen konnte, ohne auch nur eine davon zu brechen. Constances Mut, ihre Warmherzigkeit und Tatkraft spiegelten sich in Grace wider. Das Beste von ihr war allein auf diese Tochter übergegangen, als wären diese Gaben damit erschöpft gewesen und nichts übrig geblieben für Stephen und Ada.
So stolz der Colonel auf Grace war, so innig war die Zuneigung, mit der er an Ada hing; vielleicht weil sie ihrer Großmutter, seiner Mutter, ähnelte, die noch vor Adas Geburt gestorben war und deren Namen sie trug. Vielleicht aber auch, weil Ada mit ihrer Sanftmut, ihrer Schüchternheit geradezu danach verlangte, dass man sie beschützte. Nicht nur Rang und Herkunft waren bei ihrem zukünftigen Ehemann in Betracht zu ziehen, sondern insbesondere dessen Charakter. Gefestigt müsste dieser sein und verlässlich, geeignet, einen guten Einfluss auf Ada auszuüben, so formbar, wie sie von Natur aus war.
Allein Stephen gab ihm Anlass zur Sorge, wenn nicht gar zur Verärgerung. Weder die Schulzeit in Cheltenham noch das sich bald dem Ende zuneigende Ausbildungsjahr in Sandhurst hatten die gewünschte Wirkung erzielt: dass Stephen endlich seine unmännliche, unsoldatische Empfindsamkeit ablegte, von der sich der Colonel nicht erklären konnte, woher sie stammte. Sowohl die Norburys als auch die Shaw-Stewarts blickten auf eine lange Tradition in Militär und Marine zurück, ebenso wie die mit ihnen verschwägerten Shiptons, Blackwoods, Townsends und Westbrookes. Wer als Mann den Namen Norbury trug, warfür gewöhnlich aus hartem Holz geschnitzt. Des Colonels Hoffnung ruhte nun ganz auf Stephens Zeit nach Sandhurst, dass Stephens Wesen gestählt würde durch das Leben im Regiment.
Besser noch durch die Erfahrung eines Krieges.
Die beiden Pferde nahmen die Steigung aus dem dicht bewaldeten Tal herauf, trabten dann durch die Allee aus Ulmen, an deren Ende sich stolz das Herrenhaus von Givons Grove erhob. Ein zierliches, flaggengeschmücktes Glockentürmchen überragte die Giebel und die grauen Schieferdächer. Lang gezogene Seitenflügel flankierten die Hauptfassade in Primelgelb und Weiß und ließen den Vorplatz
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