Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Becky?« Er warf seiner Frau einen warmen Blick zu, und diese fuhr daraufhin fort, mit ihrer melodischen Stimme aus Hardys Bürgermeister von Casterbridge vorzulesen, während Constance Norbury ihre Handarbeit wiederaufnahm und Stephens Augen sich erneut auf die Spielfiguren aus schwarzem und weißem Marmor richteten.
Er streckte die Hand aus und verschob einen der beiden Türme. »Schach, Vater.«
Herausfordernd sah er Colonel Norbury an, der die linke Hand vorstreckte und eine der Figuren auf dem Spielbrett verschob. »Wie gewonnen, so zerronnen, mein Sohn.«
51
Mit einem tiefen Atemzug fuhr Grace aus dem Schlaf auf und blinzelte in das lavendelgraue Dämmerlicht. Ihre Hand tastete über das kühle Laken hinweg auf die andere Seite des Bettes, fand sie jedoch leer vor. »Jeremy?«, flüsterte sie in die Schatten des Zimmers hinein, in das von der Gasse heraufdringende Summen und Brausen aus kehligen, geschmeidigen Lauten arabischer Wortkaskaden, schallendem Gelächter, sanften Schritten in Pantoffeln und dem lauteren Klatschen von Sandalen, dem Geschepper und Geklapper aus dem Kaffeehaus gegenüber, das das Wesen Cairos ausmachte. »Jeremy?«
Als sie ihn regungslos am Fenster mit den aufgeklappten Läden stehen sah, nur mit langen Hosen bekleidet und eine brennende Zigarette in der Hand, setzte sie sich auf. Sie hob ihren dünnen Morgenrock vom Boden auf, den sie auf einem Basar gekauft hatte, und zog ihn über ihre Blöße. Sie war immer noch wesentlich dünner als früher, wenn auch nicht mehr so abgemagert wie bei ihrer Ankunft hier im Februar. Das gute, stark gewürzte ägyptische Essen, Hühnchen mit Zimt und Kardamom, Reis mit Bohnen, säuerliche Okraschoten und gesottener Blumenkohl, die klebrig süßen, zuckrigen Kuchenschnitten, hatte seine Wirkung getan. Im Aufstehen band sie sich den Morgenmantel zu und tapste auf nackten Füßen ans Fenster. Sie schob die Hände unter Jeremys Achseln und verschränkte sie vor seiner Brust, die inzwischen nicht mehr so knochig war, küsste ihn aufdie Schulterblätter, die nicht mehr so scharf hervorstachen, und schmiegte die Wange in die Kuhle dazwischen.
»Weißt du, was mir einfach nicht aus dem Kopf geht?«, sagte er nach einer Weile. »Als Len so dalag, mit seinem Bauchschuss ... Ich habe die ganze Zeit über nur den Revolver angestarrt, mit dem er uns bedroht hat, und gedacht – nur eine Kugel. Nur eine Kugel. « Er wandte sich halb zu Grace um. »Ich war drauf und dran, die Waffe zu packen und ihn zu erschießen, Grace. Und ich weiß bis heute nicht, ob ich es getan hätte, um mich zu rächen oder um ihn zu erlösen.«
»Das eine wäre nur allzu verständlich gewesen«, murmelte sie gegen seine vernarbte Haut. »Und das andere hätte dich sehr geehrt. Du hast es aber nicht getan.«
Er lachte kurz und trocken auf, beugte sich vor und drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, die als behelfsmäßiger Aschenbecher auf dem Mosaiktischchen unter dem Fenster stand. »Nein, ich hab mir vielmehr gewünscht, dass er in den paar Minuten so viel durchmacht wie ich an einem Tag in Omdurman.«
Grace zögerte einige Wimpernschläge lang. »Hast du mir seither je die Schuld daran gegeben, was Len getan hat?«
Er wandte sich um, und zwischen seinen Brauen erschienen feine Kniffe, während sein Mund unter dem sorgfältig gestutzten Bart voll und weich wirkte. »Nein, Grace, keine Sekunde. Nie.« Seine Augen, die in diesem Licht fast schwarz wirkten, wanderten über ihr Gesicht. »Aber ich weiß, dass du dir deshalb Vorwürfe machst.«
»Ja«, hauchte sie, den Blick auf das Haus gegenüber mit den geschnitzten Holzgittern vor den Fenstern und doch in eine unbestimmte Ferne gerichtet. »Es vergeht kein Tag, an dem ich das nicht tue oder daran denke.«
Seine Hand legte sich auf ihre Wange. »Wir haben beide so einiges, mit dem wir von nun an leben müssen.« Als sie nickte, beugte er sich zu ihr und küsste sie.
Einmal mehr durchzuckte Grace das Erschrecken darüber,wie selbstbezogen sie geworden waren. Wie rücksichtslos sie hier in Cairo ihre Liebe auslebten, ohne Scham, ohne Reue, ganz so, als gäbe es nur sie beide auf der Welt; als ob das, was hinter ihnen lag, sie härter gemacht hätte, beinahe kaltherzig. Und doch war ihnen beiden ein Bewusstsein für ihre Verletzlichkeit geblieben, für ihre eigene Sterblichkeit und für die Vergänglichkeit der Dinge, sodass sie umso gieriger jeden Moment auskosteten, zusammen glücklich zu sein.
Jeremys Küsse entfachten
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