Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Zärtlichkeiten. Dort standen sie ständig im Blick der Öffentlichkeit, und obendrein war Ada ihrem Ruf als Lehrerin für wohlerzogene junge Mädchen verpflichtet. In Kew Gardens und in der National Gallery hatten sie sich erst mit schüchternen Blicken begnügen müssen; nur im dunklen Konzertsaal hatte Royston es gewagt, Adas Hand zu nehmen, hatten sich ihre kleinen Finger mutig in seine große Hand gestohlen. Umso sehnsüchtiger hatten beide das Ende des Trimesters herbeigesehnt. Jeden Tag fuhr Royston nun nach Shamley Green und ließ bei seiner Ankunft im Haus gleichmütig Stephens breites Grinsen, Beckys Glucksen und die vielsagenden Blicke Lady Norburys über sich ergehen. Alles, was zählte, war, Ada zu sehen und hier, auf der Bank in der Rotunde, zu küssen.
»Ads«, raunte er, als sie beide Atem schöpften und sie ihr Gesicht in seine Halsbeuge schmiegte, ihre Finger zärtlich über sein Genick krabbelten, dass Royston sich wie warmes, langsam schmelzendes Wachs fühlte. »Ads, möchtest du meine Frau werden?«
Keine sorgfältige Planung wie damals bei Cecily. Kein Kniefall, keine feierliche Ansprache, und obwohl er seit Wochen an nichts anderes mehr gedacht hatte, kam es ihm ganz natürlich über die Lippen. Einfach so. Sein Herz erzitterte, als sie in seinen Armen erstarrte, sich von ihm löste und aufrecht hinsetzte, ohne ihn anzusehen, beulte sich ein unter der Angst, abgewiesen zu werden und einmal mehr mit leeren Händen zurückzubleiben.
»Ads?«
Adas Brauen zogen sich zusammen, und sie ballte die Hände zu Fäusten, legte sie in den Schoß. Unzählige Male hatte sie daran gedacht, es Royston zu beichten, und war dann doch im letzten Moment immer davor zurückgeschreckt. Sie wollte nicht, dass er schlecht über sie dachte; vor allem wollte sie nicht, dass er sich enttäuscht von ihr abwandte. Sie wollte das Glück nicht zerstören, das seit dem Frühjahr zart aufgesprossen war und das nun, in diesem Sommer, so üppig blühte, so wie sie sich nach einem über zwei Jahre währenden harschen Winter wieder erblüht fühlte.
Ada war gern mit Royston zusammen, der ihre Liebe zur Musik, zur Kunst teilte. Sie mochte seinen Humor, mit dem er sie zum Lachen brachte, und seine warmherzige, ein bisschen behäbige Art. Sie mochte die bodenständige, unerschütterliche Zuversicht, die von ihm ausging, und wie sein Bart bei seinen Küssen auf ihrer Haut kitzelte und kribbelte; Küsse, deren Wärme bis tief hinunter in ihren Leib drang. Wenn sie an Roystons breiter Brust lag, fühlte sie sich sicher. Als ob ihr niemals mehr etwas Schlimmes geschehen könnte.
Royston hatte jedoch ein Recht, es zu erfahren, und dies war vielleicht die letzte Möglichkeit, es ihm zu sagen, ohne allzu großen Schaden anzurichten.
»Es gibt etwas, das du nicht weißt über mich, Royston. Niemand weiß davon.« Die Knöchel an ihren Fingern traten weiß hervor, als sie den Druck ihrer Hände verstärkte. »Ich ... ich bin nicht mehr unberührt. Damals«, sie atmete schwer ein, »damals,bevor ihr nach Chichester gegangen seid ... an jenem Wochenende im August auf Estreham ... Da haben Simon und ich ...«
Er schluckte. »Hat er ...«
»Nein.« Ada schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich war diejenige, die es wollte.« Ein entschlossener Zug trat in ihr Gesicht, und einen Augenblick lang sah sie ihrem Vater, dem gestrengen Colonel, verblüffend ähnlich. »Und ich habe es keinen einzigen Tag bereut. Auch wenn ich glaube, dass sein Tod mich deshalb mehr geschmerzt hat, als wenn es nur bei Küssen geblieben wäre.«
Royston starrte vor sich hin. Das Bild, das er sich all die Jahre von Ada gemacht hatte, ein unschuldiges, elfenhaftes, der Welt ein wenig entrücktes Wesen, lag in Trümmern. Ja, er hatte sie geküsst, ja, er hatte ihr einen Antrag gemacht, er wollte sie heiraten und sein Leben mit ihr verbringen – aber sich alles Weitere vorzustellen, das hatte er sich standhaft verboten. Ein feiner Nadelstich der Eifersucht durchfuhr ihn, dass Simon das Los zugefallen war, Ada ihre Jungfräulichkeit zu nehmen – noch dazu auf Estreham! –, und im nächsten Augenblick durchflutete ihn eine unbändige Freude, dass Simon und Ada dieses Glück vergönnt gewesen war. Wenn ihre gemeinsame Zeit schon so jäh und so grausam enden musste.
Mit einem Seitenblick streifte er Ada, die steif neben ihm thronte, als erwartete sie jeden Augenblick seinen Urteilsspruch: ihr mädchenhaftes, noch immer niedliches Gesicht, das nur ein klein wenig
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