Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
schmalen Wiesenstreifen und in ein Wäldchen aus Laubbäumen, auf das Häuschen aus Backstein unter einem grauen Schindeldach zu. Keuchend lehntesie sich gegen die Eingangstür, schob sie mit der Schulter auf und wartete, bis Simon nur noch wenige Schritte entfernt war, dann schlüpfte sie hinein, und die Tür fiel schwer hinter ihr ins Schloss.
Verdutzt blieb Simon stehen. Dann ging er ihr nach.
»Ada?« Er drückte die Tür auf und trat über die Schwelle. Auf zwei Seiten des niedrigen Raumes standen Türen offen und gaben Einblick in enge Zimmer, die vollgestopft waren mit spinnwebbedeckten Schränken und verhüllten Kanapees und Sesseln, mit aufeinandergestapelten Kisten und Säcken. Es roch muffig hier, nach Staub und altem Holz und trockenem Papier und vergilbten Stoffen, nach Zeit und nach Ewigkeit. »Ada?«
»Hier oben!«
Simon musterte die schmale Treppe, die sich nach ein paar Stufen im Dämmerlicht verlor. Er zögerte, einen, zwei Wimpernschläge lang. Dann setzte er den Fuß auf die erste Stufe.
Der Himmel hatte sich auf die Wipfel der Bäume gelegt, undurchdringlich und wolfsdunkel. Kein Laut war zu hören. Kein Insekt schwirrte mehr umher, und auch die Vögel blieben stumm. Aus der Ferne zitterte ein Grollen heran, schwoll an zu einer polternden, hallenden Kaskade und verklang in einem leiser werdenden Rumpeln, dessen Echo noch einige Herzschläge lang in der Luft vibrierte.
»Wir sollten umkehren«, raunte Jeremy gegen Grace’ Mund.
Ihre Lider zuckten, öffneten sich schließlich, wenn auch widerstrebend, und sie nickte.
Er entließ sie aus seinen Armen und bückte sich, um sein Jackett aufzuheben, es nachlässig auszuklopfen und sich über die Schulter zu werfen. Wortlos streckte er die Hand nach ihr aus, und ebenso wortlos legte Grace ihre Finger hinein. Eine Weile waren nur ihre Schritte zu hören, knirschend auf dem trockenen Boden, auf dem groben Kies. Das Rascheln, als ein einzelner Windstoß durch das Laub über ihren Köpfen fegte und sich sogleich wieder davonmachte.
»Schreibst du mir aus Chichester?«
Erneut rollte ein Donner heran, kräftiger diesmal und mit länger anhaltendem Nachhall. Und umso bleierner war die Stille danach.
»Jeremy?«
Ein Blitz flammte in den Wolken auf.
Jeremy blieb stehen und sie mit ihm. Er sah auf ihre verschlungenen Hände hinab und verstärkte den Druck seiner Finger. »Ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht, Grace. Mir wollte einfach nicht in den Kopf, warum das Ministerium gleich fünf Offiziersstellen mit uns Absolventen besetzt hat. Allein mit der neuen Zusammensetzung des Regiments nach der Reform konnte ich es mir nicht erklären. Also habe ich mir überlegt, dass es einen triftigen Grund geben muss, wenn die Reihen des Regiments aufgestockt werden.« Zwischen seinen Brauen zeigten sich schmale Kniffe, und sein Mund wirkte angespannt. »Momentan scheint zwar alles ruhig, aber offenbar rechnet man im Ministerium durchaus mit einem baldigen Einsatz des Royal Sussex.«
Grace’ Kehle wurde plötzlich eng, und das Sprechen fiel ihr schwer. »Kannst du dir vorstellen, wo das sein könnte?«
Seine Augen wanderten über Grace hinweg in die Ferne. »Irgendwo in Afrika vielleicht. Eine neue Krise, nach den Kriegen gegen die Zulus und die Buren. Ägypten möglicherweise.«
Ägypten. Sand und Pyramiden und der Nil. Pharaonen und Fellachen und die Sphinx. Grace durchforstete ihr Gedächtnis, rief sich in Erinnerung, was sie unlängst in Zeitungen und Magazinen darüber gelesen hatte. Ein korruptes und bankrottes Land, europäischen Mächten gegenüber hoch verschuldet und dadurch deren Einfluss ausgeliefert. Ein zwischen Osmanischem Reich und dem Khediven als Marionettenherrscher gespaltenes Land, zerrissen zwischen Großbritannien und Frankreich, zwischen Ägyptern, Tscherkessen, Türken und Albanern, zwischen Altertum und Moderne, zwischen Armut und Überfluss. Und einLand, das vom Leben in Surrey so weit entfernt schien wie der Mond.
»Das Royal Sussex unterhält Garnisonen auf Malta und auf Zypern. Womöglich werde ich nicht lange in Chichester bleiben. Ich hoffe zumindest, dass ich nicht auf Dauer dort bleibe. Wenn es zu einem Krieg kommt, dann will ich dabei sein, Grace! Das könnte meine Chance sein – meine Chance, mich verdient zu machen, vielleicht eine Beförderung zu erringen.«
Seine Augen glänzten wie im Fieber. »Eine Chance für uns, Grace.«
Adas Herz hämmerte gegen ihre Rippen, und sie presste sich fester mit dem
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