Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Anwandlungen nicht schämen musste.
Er rauchte die letzten Züge an der Zigarette, trat sie dann aus, und dann kam es verlegen von ihm: »Woran merke ich, ob ich die Richtige gefunden habe?«
Stephen spürte, wie Jeremys Augen einige Herzschläge lang auf ihm ruhten.
»Du grübelst zu viel«, entgegnete Jeremy beinahe schon unwirsch. »Vor allem zu viel über Dinge, bei denen Grübeln ohnehin nichts nützt.« Er schob sich den Gedichtband unter dem Kopf zurecht. »Ich nehme an, dass dir diese Frage niemand beantworten kann. Das musst du schon für dich selbst herausfinden.«
Stephen bohrte weiter nach. »Woran hast du es bei Grace gemerkt?«
Jeremy sah zu den Pyramiden hinüber. Ostersonntag war es gewesen, einer der ersten milderen Tage in jenem Frühjahr, wenn auch noch recht kühl für Mitte April, ein Tag zwischen Krokussen, gerade erblühten Narzissen und hartnäckigen Schneeresten. Jenes Ostern, das Jeremy auf Shamley Green verbrachte, nachdem seine Mutter und er dahingehend übereingekommen waren,dass er sich das Fahrgeld nach Lincoln lieber sparte und im Süden blieb. Nach dem Gottesdienst in Holy Trinity hatte sich die Gemeinde zum Osterfrühstück ins Pfarrhaus gedrängt, ein Anlass, für den Becky wochenlang alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Von den Eltern angespornt, die am Rand des Gartens versammelt standen, wetteiferten die Kinder auf der Gemeindewiese vor dem Haus im Eierschieben. Unter lautem Gekreische und Gejohle trieben sie mit Stöcken hart gekochte Eier den sanft abfallenden Hang hinab; ein mit Malventee, Zwiebelhäuten und Nussschalen und dem Saft Roter Bete eingefärbtes Perlenmosaik, das zwischen den Kinderfüßen kullernd auf dem Rasen auseinanderlief und immer mal wieder mit einem Knacken, einem knatschenden Geräusch unter einem kleinen Schuh eines seiner Teile verlustig ging. Ein Junge war unter den Kindern gewesen, sicher noch nicht älter als zwei, höchstens drei, der mit den anderen noch nicht mithalten konnte. Immer weiter fiel er hinter der vorwärtsstürmenden Kinderschar zurück und blieb schließlich stehen. Sehnsüchtig sah er dem Pulk hinterher, der den Hang hinabhüpfte, drehte sich mit jammervollem Gesichtsausdruck zu den Erwachsenen hinter ihm um, und just bevor er anfing zu weinen, hatte Grace ihre Teetasse Stephen in die Hand gedrückt und war losgelaufen.
Eine Hand schob sie unter die Achsel des Buben, mit der anderen legte sie ihm die Finger um den Stock und half ihm, die Handvoll umherrollender Eier vorwärtszuschieben.
Alle anderen waren längst wieder bei ihren Eltern und zeigten stolz ihre ins Ziel gebrachten Ostereier her, als Grace und ihr kleiner Schützling das letzte gefärbte Ei über die Markierung schubsten. Grace reckte die Faust in die Luft und gab ein Freudengeheul von sich, und der kleine Junge lachte aus vollem Hals, klatschte glücklich in die Hände. Sie ging in die Knie, um die Eier einzusammeln und sie dem Kleinen zu geben, hob ihn dann hoch und kehrte mit dem Buben auf dem Arm zum Haus zurück.
Grace mit dem Jungen zu sehen, wie sie mit ihm sprach, mit ihm lachte, hatte nichts Aufgesetztes, und obwohl Jeremy zuvor schon aufgefallen war, welche Warmherzigkeit Grace gegenüber allen Menschen an den Tag legte, wurde ihm erst jetzt bewusst, was für eine Liebe von ihr ausging. Schmerzhaft jagte die Sehnsucht durch ihn hindurch, dieser kleine Bub in seiner Joppe und dem roten Schal, mit seiner Ballonmütze auf dem braunen Haar und mit den braunen Augen, möge sein Sohn sein, seiner und Grace’. Ein kleiner Mensch, der etwas von ihm und etwas von Grace in sich vereinte, erschaffen in einem Liebesakt, der für sie beide erfüllend war, mit dem Leib, mit der Seele.
Jeremy hatte nie einen ernsthaften Gedanken an ein Heim und an eine Familie verschwendet. Zu lange war er darauf konzentriert gewesen, sich überhaupt erst ein Leben aufzubauen, für sich ganz allein. Vor allem aber graute ihm bei der Vorstellung, Kinder in die Welt zu setzen, die dann mit einem Vater leben müssten, wie er einen gehabt hatte. Die den Preis für ein Unheil zahlten, das vor ihrer Geburt hereingebrochen war und allein durch ihre Zeugung mit einem Makel behaftet waren. So wie er damals.
Grace mit diesem Jungen zu sehen war, als ob ein lange vor sich hin wucherndes Geschwür plötzlich aufbrach und ätzenden Eiter absonderte. Umso mehr, als Grace ihn plötzlich ansah und er sich ertappt fühlte. Ihre Schritte hatten sich verlangsamt, ein leises Lächeln hatte sich um
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