Jenseits des Protokolls
zuvor in einem relativ kurzen Zeitabstand erst ihren Vater und dann ihre Mutter verloren, daher ein Schuljahr ausgesetzt, war somit ein Jahr älter als ich und hatte schon den Führerschein. Jeden Morgen kam sie mit ihrem Motorrad zur Schule, standesgemäß in schwarzer Lederkluft. Auch sie war einfach anders. Anders als ich und auch anders als die anderen Mädchen in der Stufe. Stephanie war einfach cool und an ihrer Seite kam ich mir in meinem Jeans-Sweatshirt-Look wie die angepasste, langweilige Vorstadtschnecke vor. Sie schien mir schon so erwachsen, so souverän, so viel weiter als ich. Ihr ganzes Auftreten hat mich beeindruckt. Natürlich spielte da vor allem der Tod ihrer Eltern eine Rolle, dass sie von heute auf morgen ganz auf sich alleine gestellt war. Stephanie hatte das Haus ihrer verstorbenen Eltern verkauft und war in eine WG in Hannover gezogen. Mit den meisten Mitschülern redete sie nur das Nötigste. Der ganze Schulalltag war für sie mehr eine Last, die man halt ertragen musste. Sie wollte nur schnell das Abitur in der Tasche haben, um dann frei zu sein, zu studieren, vielleicht in eine andere Stadt zu gehen. Manchmal fragte ich mich, warum dieses in meinen Augen bereits so autarke Mädchen überhaupt mit mir befreundet war. Aber ich glaube, auch für sie war es die Gegensätzlichkeit, die sie anzog. Ich war fröhlich, lachte viel, war gut in die Stufe integriert und kam aus einem behüteten Elternhaus. Ich schaffte es, sie mit meiner Art abzulenken und abzuhalten, traurigen Gedanken nachzuhängen.
Nach dem Abitur studierte Stephanie in Hannover Medizin und zog später nach Herford. Dort lebt sie heute auf dem Land und arbeitet als Ärztin. Sie ist die starke, unabhängige und eigenwillige Powerfrau, die Karriere und fünf Kinder, fünf Mädchen, auf echt beeindruckende Weise vereinbart. Sie ist eine totale Kämpferin für das, was ihr wichtig im Leben ist: eben ihre Kinder, ihr Job, aber auch die Zeit für sich, um sich weiterzuentwickeln. Ich kenne keinen Menschen, der so intensiv an sich arbeitet, wie sie es tut. Es mag sich vielleicht seltsam anhören, aber ich bin stolz, eine derart tolle Frau wie sie zu kennen und zur Freundin zu haben.
Es gibt da so eine Art blindes Verständnis zwischen uns. Ich weiß, dass sowohl Josefine wie auch Stephanie ehrlich mir gegenüber sind, dass sie ein Auge auf mich haben, dass sie mich kennen. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist ihre Reaktion, als ich ihnen Christian als den neuen Mann an meiner Seite vorstellte. Ich hatte dabei schon ein gehöriges Muffensausen. Dabei muss ich auch sagen: Es war meine Freundin Stephanie, die mich überhaupt erst darauf hingewiesen hatte, dass Christian wohl mehr als nur ein berufliches Interesse an mir habe. »Der will doch was von dir«, meinte sie, als ich ihr erzählte, dass er und ich zum Essen verabredet seien. Wirklich gut fand sie es nicht. Auch Josefine war wenig begeistert. Mit einem Politiker zusammen zu sein war und ist für viele ja schon ein Reizthema. Sich dann aber auch noch in einen konservativen Politiker zu verlieben, ging eigentlich gar nicht. Schließlich waren meine Freundinnen und ich doch zu Zeiten von Ernst Albrecht, ebenfalls von der CDU und von 1976 bis 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen, groß geworden und pflegten zu Jugendzeiten eine fast natürliche Rebellion gegen alles Konservative. Ich meinte in Josefines und Stephanies Blicken damals, als sie Christian dann kennenlernten, die Skepsis zu sehen. Dazu kamen die Fragen: »Wie kannst du dich in so einen Mann verlieben? Der passt doch nicht zu dir. Der ist doch völlig anders. Wenn schon ein Politiker, warum dann nicht einer von den Grünen oder der SPD? Aber der, der passt doch gar nicht in dein Leben, nicht zu unserem Leben.«
So hatte ich am Anfang der Beziehung zu Christian durchaus das Gefühl, mich gegenüber meinen Freundinnen rechtfertigen zu müssen, warum es ausgerechnet er und kein anderer ist. Und das Fatale daran: Man kann es ja gar nicht erklären. Es sind da diese unglaublich starken Gefühle, für die man keine Worte findet, und daher sagte ich zu Josefine und Stephanie, dass ich mich einfach nur total verliebt hätte. Und dass ich mir über die Probleme, dass Christian zum Beispiel noch verheiratet sei, zwar im Klaren wäre, es jedoch trotzdem gerne mit ihm probieren würde. I ch weiß, dass gerade Josefine noch länger mit der Skepsis kämpfte, doch ich bin froh, dass weder sie noch Stephanie eine Schublade
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