Jenseits des Spiegels
„Ja, alles okay. Ich brauch nur mal kurz frische Luft.“ Als ich aufstand, merkte ich kaum, wie die Azalee von meinem Bein rutschte, und auf den Boden schlug. Ich spürte die Blicke im Rücken, als ich den Raum verließ, doch das realisierte ich nur am Rande. Was war nur mit mir los? Was war das für ein Licht, und warum setzte die Erinnerung in mir nur so ein Gefühlschaos in Gang?
°°°
Die Gedanken in meinem Kopf wirbelten so schnell, dass ich keinen davon zu fassen bekam. Nur eine Sache schob sich immer wieder in den Vordergrund: dieses seltsame Gefühl, gefolgt von einem blauen Blitz. Was war das?
Ich hatte mich, nachdem ich aus dem Gemeinschaftsraum – oder wie auch immer die ihn hier nannten – geflohen war, Zuflucht unter einem Grüppchen Bäumen gefunden, zwischen denen ich mich vor den Blicken aus den Häusern um mich herum, verbergen konnte. Ich hatte allein sein wollen, doch hier draußen fühlte ich mich verlassen. Nach drinnen zu den anderen wollte ich aber nicht wieder zurückkehren. Außerdem machte es keinen großen Unterschied. Ich war ein Außenseiter, und das ließen sie mich deutlich spüren. Ich war kein Teil der Gemeinschaft, und die meisten fragten sich wahrscheinlich sowieso, warum Prisca mich noch nicht fortgeschickt, oder sogar getötet hatte. Ich zumindest tat das.
Was dachte ich da eigentlich? Ich wollte nicht dazugehören, ich wollte nur hier weg, wollte wissen, was mit mir geschehen war, wer ich war, alles andere war egal.
Gott, was war nur los mit mir?
„Was tust du hier draußen?“
Mein Kopf zuckte hoch. Vor mir saß ein hellbrauner Wolf. Ein sehr helles Braun. Die gelben Augen schienen mich festzunageln. Ich hatte das Gefühl in den geladenen Lauf einer AK-54 zu schauen.
Nur nicht bewegen, dann bemerkt er dich vielleicht nicht.
Ja sicher.
„Ich habe dich etwas gefragt.“
Die Stimme war unverkennbar. Auch wenn sie tiefer und rauer war, als in seiner menschlichen Gestalt, ich hatte ihn sofort erkannt. Vor mir saß Veith. Ich atmete einmal tief durch, um meine Panik vor dem großen, bösen Wolf zu verbergen. „Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen.“
Bitte friss mich deswegen nicht gleich.
„Ich brauchte einen Moment für mich allein, ich wollte nicht abhauen oder so.“
Den Blick mit dem er mich bedachte konnte ich nicht entschlüsseln. Vielleicht weil ich es nicht gewohnt war mit Wölfen zu sprechen – oh krass, hört euch das an, ich spreche mit einem Tier, und mache mir Sorgen darüber, was das für meinen Geisteszustand bedeutete – oder auch einfach, weil Veith so gut wie keine Mimik zuließ, weder als Mensch noch als Tier.
„Warum nicht?“
„Hä?“ Wirklich, das war doch mal eine bemerkenswert einfallsreiche Erwiderung.
„Du gehörst nicht hier her. Durch dich gibt es nur Unruhe im Lager.“
Das tat weh. Klar, ich wusste, dass ich hier nicht willkommen war, aber es so vor den Latz geknallt zu bekommen, war doch eine andere Geschichte, als das diese Vorstellung nur im eigenen Kopf bestand. Ich schlang meine Arme um mich, und senkte den Blick auf den laubiegen Boden. Ich fröstelte, und das hatte nichts mit dem Wetter zutun. „Ich weiß“, sagte ich nur kleinlaut.
„Es wäre besser wenn du gehst.“
Und wohin bitte soll ich gehen?
Wollte ich ihn anschreien. Ich biss mir auf die Lippen, um diesen Ausbruch zu vermeiden. Es kam mir nicht besonders gescheit vor, einen Werwolf … oh, entschuldigen Sie bitte, ich meine natürlich einen Lykaner, anzuschreien.
Es war ja nicht so, dass ich mich diesen Leuten aufdrängen wollte, ich wusste einfach nicht wohin ich mich sonst wenden sollte. Und außerdem wollte Prisca nicht, dass ich verschwand. Nicht bevor sie wusste, was genau es mit mir auf sich hatte.
Das Unterholz hinter mir knackte. „Ach da bist du ja“, sagte Pal so munter wie immer. „Ich wollte nur mal nachsehen …“ Er unterbrach sich kurz. „Hey, was hast du denn?“ Pause. Dann: „Was hast du zu ihr gesagt?“ Pals Stimme war ein tiefes knurren. Ich wusste auch ohne dass ich den Kopf hob, dass er mit Veith redete.
„Nur die Wahrheit. Wenn sie nicht damit umgehen kann, ist das nicht mein Problem. Kein Grund mich anzuknurren.“
„Du bist ein Arsch, weißt du das eigentlich? Nimm deine tollen Ratschläge, und nerv damit jemanden der sie hören möchte. Komm.“ Das letzte Wort galt mir. Er nahm meine Hand, zog mich auf die Beine, und das war das erste Mal, dass ich bei eine so plötzlichen Berührung von ihm vor
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