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Jenseits des Windes

Jenseits des Windes

Titel: Jenseits des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Kühnemann
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Kopf schmerzte angesichts seiner Grübeleien, aber er wusste sicher, dass er fort musste, weit weg von Hauptmann Lenry und seiner niederträchtigen Armee. Er musste zu seinem Vater, ihm seine Entscheidung mitteilen, und dann mit ihm in die Einöde fliehen, um einer Strafe zu entgehen. Kjoren war sich über die Konsequenzen von Fahnenflucht bewusst. Sollte man ihn fassen, bedeutete dies den sicheren Tod. Zudem würde er nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben seines Vaters gefährden. Endlich hatte er eine Entscheidung getroffen. Eine äußerst waghalsige, dennoch spürte er, dass es die einzig wahre war.
    Über Jahre hinweg hatte er Zweifel und Unmut unterdrückt und sich immer wieder ermahnt, für seinen Vater stark zu sein. Dennoch hatte sich das Fass mit jedem Tropfen gefüllt, bis es schließlich übergelaufen war. Er war kein Mann, der sich einsperren und maßregeln ließ; Freiheit und Gerechtigkeit gehörten zu den Werten, die sein Vater ihn gelehrt hatte. Die Sehnsucht nach Selbstbestimmung tobte in ihrem Käfig und verlangte nach Aufmerksamkeit. Er konnte sie nicht länger ignorieren.
    »Hey, was ist los mit dir?« Eine Stimme riss Kjoren aus den Gedanken. »Du bist blass und du hast heute Morgen nichts gegessen.«
    Kjoren wandte den Kopf. Es war der Soldat, mit dem er sich vor wenigen Tagen am Lagerfeuer unterhalten hatte, das Milchgesicht. Wie lautete sein Name noch? Leroy. Es fühlte sich an, als läge ihr Zusammentreffen Jahre in der Vergangenheit.
    »Danke, mir geht es gut«, presste er hervor. »Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen, weil du glaubst, mir etwas schuldig zu sein. Ich habe dein Leben nicht gerettet.«
    Leroy erwiderte nichts, aber Kjoren bemerkte den gequälten Ausdruck in seinem Gesicht, als wollte er etwas sagen, traute sich aber nicht. Es verschaffte ihm die Gewissheit, dass er seinen Fehltritt mitbekommen hatte. Er sah es an einem kurzen verlegenen Aufflackern in Leroys Augen, an seinem Mund, der sich für die Dauer eines Herzschlags kurz geöffnet hatte und sich doch wieder schloss.
    »Du weißt es, hm?«, knurrte Kjoren. Es war nie seine Art, um den heißen Brei herumzureden.
    »Wovon sprichst du?« Leroy bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, doch er war ein schlechter Lügner.
    »Du weißt von der Schande, die ich über mich und unsere Truppe gebracht habe.«
    Eine kurze Pause entstand. Leroy wandte den Blick nach vorn ab. Sie latschten schon seit Stunden. Allmählich begann das Gelände, sanft abzufallen, der Baumbewuchs wurde lichter und der Wind stärker. Man musste aufpassen, wohin man trat, damit man mit dem Fuß nicht zwischen den Steinen hängen blieb.
    »Ich habe mich nie mit Ehre bekleckert«, sagte Leroy mit gedämpfter Stimme. »Zuerst habe ich dich für einen Dummkopf gehalten, weil du Lenrys Befehl verweigert hast, aber mir ist bewusst geworden, dass ich nicht das Recht dazu habe.«
    Also hatte er es tatsächlich gesehen. Vermutlich gab es niemanden in seiner Truppe, der es nicht gesehen hatte. Großartig! Aber welche Rolle spielte es noch? Der Gedanke an ein vorzeitiges Ausscheiden aus der Armee war allmählich zu einer reifen Frucht gereift, die er am liebsten auf der Stelle pflücken würde. Sein Versagen im Wald wäre angesichts des Verbrechens nichts weiter als ein Fliegenschiss.
    »Du musst das nicht sagen, damit ich mich besser fühle. Ich bin der Feigling von uns beiden.« Kjoren beabsichtigte keineswegs, Leroy mit seiner Aussage zu trösten. Vielmehr wollte er sich seine Fehlbarkeit noch einmal vor Augen führen. Es auszusprechen hatte etwas Endgültiges und Befreiendes.
    Eine Weile schwiegen sie. Leroys Anwesenheit begann Kjoren allmählich zu stören. Falls Leroy es bemerkt haben sollte, ließ er sich dennoch nicht davon abbringen, weiterhin neben ihm zu gehen.
    »Ich möchte dich wissen lassen, dass ich zuhause in Lyn zu niemandem ein Wort über den Vorfall sagen werde«, sagte Leroy schließlich.
    Kjoren verbrannte ihn mit einem zornigen Blick. Als ob ihn dies jetzt noch interessierte. Sein Entschluss stand fest.
    Trotzdem rang er sich einen halbherzigen Dank ab.
    »Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss.«
    Leroy ließ nicht locker. Weshalb konnte er nicht einfach seinen Mund halten? Kjoren beschlich das Gefühl, dass Leroy ein mächtiges Problem mit seiner Selbstachtung haben musste, wenn er sogar den Kontakt zu dem mit Abstand unbeliebtesten Soldaten der Truppe suchte. Kjoren holte gerade Luft, um Leroy in aller Deutlichkeit ins

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