Jenseits des Windes
Kumpel auf dem Kabinengang.
Endlich war er allein. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die holzvertäfelte Wand und fuhr sich über das Gesicht. Er benötigte Zeit zum Nachdenken, immerhin hatte er einen Entschluss gefasst, an dessen Umsetzung es zu feilen galt. Er würde verschwinden, sobald die »Wind I« bei Valana angelegt hatte, das nahm er sich fest vor. Grund waren weder die fortwährenden Hänseleien der anderen Soldaten, noch störte ihn das entbehrungsreiche Leben, das er führen musste. Aber sein Gewissen, das marterte ihn doch über Gebühr … Noch während Kjoren Pläne für seine Flucht schmiedete, übermannte ihn der Schlaf.
Sechs
Rückkehr
W ie klein und zerbrechlich die Welt doch war. Jedes Mal, wenn er an Bord eines Luftschiffs über die Windmeere segelte, überkam ihn dieselbe unverminderte Ehrfurcht. Aus der Distanz wirkten die fernen Kontinente am Horizont so unwirklich, als hätte sie jemand mit einem Pinsel willkürlich in die unendlichen Weiten des Himmels gemalt.
Leroy lehnte an der Reling und ließ seinen Blick durch die wolkenlosen Lüfte von Yel gleiten. Ungeachtet des starken Windes, der stets um die Kontinente peitschte, beugte er sich weiter nach vorn. Unterhalb des Schiffes gab es nichts als Luft. Es konnte einem schwindlig werden, wenn man länger darüber nachdachte, wie weit es hinabging. Die Kontinente von Yel schwebten wie dichte Wolkenburgen viele Meilen über der Unteren Welt, die niemand bislang mit eigenen Augen gesehen hatte, zumindest niemand, der heute noch lebte. Die Valanen waren vor vielen Jahrhunderten von dort unten nach Yel gezogen, in eine Welt, in der es zwischen den Kontinenten nichts als Wind gab. Die Bewohner von Yel bezeichneten alles jenseits ihrer zerklüfteten Küsten als Abgrund . Ein Hauch von Hochachtung und Schrecken begleitete stets die Geschichten vom Abgrund, unartigen Kindern drohte man bisweilen damit, sie hinunterzuwerfen. Der Abgrund hatte seinen Ruf mehr als verdient, denn niemand wusste, wie tief es tatsächlich hinabging. Die Wassermassen an den Mündungen der Flüsse von Yel stürzten sich als gewaltige Wasserfälle hinunter in die Ozeane der Unteren Welt. Beim Blick abwärts verloren sie sich jedoch in der Dunkelheit.
Leroy starrte hinab in die Tiefe und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch er erfasste nur die Schwärze, die den Blick auf die Untere Welt verhinderte. Es hatte keinen Zweck, sogar mit einem Fernrohr der Marine war es unmöglich, das Meer zu erkennen. Es hieß, Valanen und Firunen hätten sich gleichermaßen daran versucht, die unteren Ozeane und Landmassen zu erspähen und sich dabei die Zähne ausgebissen. Freilich würde sich niemand trauen, sich dorthin zu begeben.
Das Metallgeländer, welches das obere Deck der »Wind I« umsäumte, wackelte jäh. Leroy erschrak und wandte den Kopf. Zwei Kameraden waren an die Reling getreten. Durch das Heulen des Windes hatte er sie sich nicht nähern gehört. Sie stellten sich neben Leroy, beachteten ihn jedoch nicht. Es waren Louis und Abe, zwei enge Freunde, die überall, wo sie auftauchten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Trotz ihrer unbefangenen und lockeren Art waren sie zwei der besten Soldaten der Truppe. Leroy neidete ihnen ihre Sorglosigkeit und die Furchtlosigkeit, mit der sie den Kameraden gegenübertraten.
Der große hagere Abe beugte sich über die Reling und spuckte hinunter. Louis tat es ihm gleich. Es war respektlos, trotzdem ersparte sich Leroy einen Kommentar. Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln. Er wollte nicht als Spielverderber gelten. Doch die beiden beachteten ihn nicht. Er bezweifelte, dass sie seinen Rüffel, sofern er sich getraut hätte, die Stimme zu erheben, überhaupt zur Kenntnis genommen hätten. Ein kurzer Stich fuhr Leroy in die Brust. Gar nicht beachtet zu werden schmerzte noch schlimmer als Geringschätzung.
Nachdem er das alberne Spiel noch einen Moment lang beobachtet hatte, wandte Leroy den Blick ab.
»Meine Fresse, ist das stürmisch hier oben«, sagte Abe. »Man kann nicht einmal anständig runterspucken. Da muss man sogar noch Angst haben, das Zeug wieder ins Gesicht zu bekommen.« Louis lachte herzhaft.
»Ich geh wieder rein. Kommst du mit und spielst eine Partie Kelotti mit mir?«
Das Stichwort weckte Leroys Aufmerksamkeit. Louis lehnte rücklings gegen die Reling und legte den Kopf in den Nacken. »Hör mir auf mit diesem schrecklichen Spiel. Dabei muss ich immer so viel nachdenken.«
Abe knuffte
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