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Jenseits des Windes

Jenseits des Windes

Titel: Jenseits des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Kühnemann
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empfand er Respekt und Stolz. Bjart hatte den Mut aufgebracht, der Folter zu entgehen, indem er sich das Leben nahm. Er war tapfer, ein Held. Wie konnte ein solch edelmütiger Mann eine Memme wie Leroy aufziehen? Und er? War er besser? Er hatte die Chance zur Flucht verstreichen lassen! Er war ein Idiot, ein nichtsnutziger, dämlicher Narr!
    Er zitterte und trat rasch einen Schritt zurück, denn er stand gefährlich nahe am Abgrund. Vielleicht wäre es das Beste, sich Bjart hinterherzustürzen. Doch er wollte noch nicht sterben. Nicht, bevor er seinen Vater nicht noch einmal gesehen hatte, ihn gewarnt hatte.
    »Eine Schlange! Da im Gras«, rief plötzlich jemand mit panischer Stimme.
    Kjoren fuhr herum. Die Stimme gehörte zu Joff, der krummnasigen Krähe. Hatte er etwa Angst vor einem Tier? Nathan stieß ein wütendes Knurren aus und bückte sich nach der Schlange. »Bist du ein kleines Kind, dass du vor einem Seil Angst hast?« Er griff danach und hob es schwungvoll vom Boden auf.
    Plötzlich wurde Kjorens Fuß mit einem Ruck zur Seite gerissen. Er strauchelte, schaffte es nicht, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Ein loser Geröllbrocken löste sich an der Kante und nur einen Herzschlag später fühlte Kjoren nichts mehr unter sich als die endlose Weite. Er glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Todesangst lähmte seine Muskeln. Er fiel wie ein Stein.
    Aus der Ferne drangen die Schreie der Soldaten an sein Ohr, doch der dröhnende Wind schluckte alle Geräusche. Schneidende Kälte riss an seinen Kleidern und stach in seine Haut wie tausend Nadeln. Schwindel übermannte ihn, er schloss die Augen. Er wünschte sich nichts mehr als eine erlösende Ohnmacht, doch sein Flehen blieb unerhört. Er stürzte und stürzte. Kjoren wollte nicht bei Bewusstsein sein, wenn der Aufprall seinen Körper zerfetzte. Er war nie besonders gläubig gewesen, doch er betete zu den alten Luftgöttern, auf dass sie ihm einen schmerzlosen Tod bescheren mögen. Er hatte immer geglaubt, sich nicht vor dem Sterben zu fürchten, doch nun, da er in die hässliche Fratze des Todes blickte, erkannte er, wie unabdingbar der menschliche Lebenswille sein konnte.
    Der freie Fall dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Tausend Gedanken schossen Kjoren durch den Kopf. Er dachte an seinen Vater. Tränen lösten sich aus seinen Augenwinkeln und wurden vom Sturm sogleich davongetragen. Wann hatte er das letzte Mal geweint? Hatte er überhaupt schon einmal geweint? Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Schon bald schluchzte er wie ein Kind. Er strampelte, jammerte und jaulte, doch der Wind verschluckte seine Stimme. Seine Sinne schwanden. Über ihm entfernte sich die Welt, er sah es nicht, aber er wusste es. Auch das Licht schien zu sterben, schon bald umhüllte ihn nahezu vollständige Dunkelheit. Er wünschte sich, er würde endlich irgendwo aufschlagen, doch gleichzeitig packte ihn ein alles überlagernder Lebenswille, der in der Hoffnungslosigkeit seiner Situation beinahe albern anmutete.
    »Ich will nicht sterben«, brüllte er in den Sturm hinaus. Wie auf ein Stichwort bremste er jäh ab, als hätte ihn jemand brutal am Kragen gepackt. Ein heftiger Schlag fuhr ihm durch die Wirbelsäule, das Pfeifen in seinen Ohren brach ab. Er öffnete die Augen, blinzelte. War er tot? Panisch sah er nach unten, doch da war kein Boden, nur alles verschluckende Schwärze. Um ihn herum war überhaupt nichts als Wind und Kälte. Luft! Ein Schreck durchfuhr ihn, als er den Kopf drehte.
    Blauschwarz wie die Nacht und mindestens drei Yards breit spannte sich etwas über seinem Kopf wie ein riesiges Seidentuch. Seine Flügel!

Neunzehn
    Verbündete
    H aushohe Tannen, die dicht an dicht standen wie eine dunkelgrüne Mauer aus senkrecht in den Himmel wachsenden Pfählen, ragten bedrohlich über ihnen auf. Durch das dichte Nadelkleid drangen nur wenige Lichtstrahlen bis herab auf den lichten Teppich aus Moosen, Tannennadeln und Farnen. Die Luft roch nach Schnee. So weit im Norden war es noch beträchtlich kälter als in Valana. Elane zog den Umhang, den Ibrik ihr aus seinem Reisegepäck geschenkt hatte, enger um die Schultern. Leroy ging mit gesenktem Kopf neben ihr her, auch er zog sich einen Umhang bis zur Nasenspitze empor. Ibrik und Lotta hatten sie bereitwillig mit Kleidung und Proviant versorgt. Elane konnte sich nicht erklären, weshalb sie so freundlich zu ihnen waren, hätten sie doch allen Grund gehabt, Valanen zu hassen. Der Abschied hingegen war schnell und

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