Jenseits des Windes
Lebens. Noch vor wenigen Wochen war ich die glücklichste Frau der Welt, ich war verlobt und mir stand eine glänzende Zukunft bevor. Innerhalb weniger Tage hat sich mein Leben komplett gedreht. Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«
Leroy schnaubte. »Es ist mir einfach nicht begreiflich. Wir sitzen auf West-Fenn und versuchen, uns ein Tagebuch anzueignen, von dem bis vor Kurzem noch niemand gewusst hat. Zufällig nehmen uns zwei Firunen mit. Findest du das nicht seltsam? Und hast du dir eigentlich schon Gedanken darüber gemacht, wie wir in das Kloster hineingelangen wollen? Wir können wohl kaum anklopfen und um die Herausgabe des Tagebuchs bitten.«
Elane blies kurz die Wangen auf und zog die Augenbrauen zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie sich ärgerte. Es war eine dumme Angewohnheit und selten bemerkte sie es so wie jetzt. »Und weshalb können wir das nicht? Du hast ein Magisches Mal, du bis Allorets Erbe.« Sie wunderte sich, wie leicht ihr die Worte über die Lippen kamen. Immerhin hatte Leroy ihr die Rolle als Thronerbin abgenommen, die über zwanzig Jahre lang ihr vorbehalten war. »Vielleicht können wir sie von deinem Recht überzeugen.«
»Ich habe außer dem Mal keinerlei Beweise. Du hast meinen Vater gehört, eine Geburtsurkunde gab‘s nicht.«
Wut stieg in Elane auf. Musste dieser Miesepeter ihr denn immer die Laune verderben? Sie wusste, wie schwierig die Aufgabe werden würde, aber sie wollte nicht fortwährend daran erinnert werden. Es musste einfach einen Weg geben. Sie beschloss, die Diskussion an diesem Abend nicht fortzuführen und gähnte auffällig. Sie konnte auf Leroys düstere Vorhersagen verzichten, wandte sich ab und rollte sich in ihren Umhang ein, um zu schlafen.
Trotz ihrer Müdigkeit lag sie noch lange wach. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie das Tagebuch überhaupt noch finden wollte. Weshalb tat sie sich das an? Es war nicht ihre Schuld, dass die Familie Venell sich unrechtmäßig auf den Thron erhoben hatte. War es ihre Aufgabe, etwas daran zu ändern? Konnte sie etwas ändern? Ein einsames, verstoßenes, behütet aufgewachsenes Mädchen? Dann dachte sie wieder an Ibrik und Lotta, an all die Firunen und das Chaos im Land. Und an Kjoren ... Wenn es tatsächlich stimmte, was Leroys Vater über die geheime Formel gesagt hatte, standen den Firunen vielleicht nicht nur schwere Zeiten bevor, sondern auch Sklaverei und Tod. Plötzlich rang sie mit den Tränen, als sie Kjoren vor sich sah, sein ehemals langes, helles Haar, die oft böse verengten, misstrauischen Augen. Es schmerzte sie, dass sie ihn den Soldaten hatten überlassen müssen. Hoffentlich lebte er noch. Sie wünschte sich nichts mehr, als ihn noch einmal wiederzusehen. In ihren Gedanken sehnte sie sich Kjoren herbei, bis der Schlaf sie übermannte.
Am nächsten Morgen packten sie schweigend ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, löschten das Feuer und machten sich auf den Weg, eine schier unlösbare Mission zu erfüllen. Die Stimmung war gedrückt und lastete wie ein Gewicht auf ihren Schultern, das jeden weiteren Schritt zu einer Tortur werden ließ. Sie hatten beide weder einen Plan noch den Hauch einer Idee, wie sie sich Zutritt nach Ceregrym verschaffen sollten, ganz zu schweigen von ihrem Vorhaben, das Tagebuch zu beschaffen. Elanes Selbstsicherheit, die sie sich erst innerhalb der letzten paar Wochen mühsam erkämpft hatte, verflog mit jedem Schritt mehr und mehr. Die Erkenntnis, ein unbedeutender Bauer in diesem Schachspiel zu sein, brach über sie herein, als eine Woge aus Verzweiflung. Sie war nach wie vor mit einem Tyrannen verheiratet, und sie hatte kein Zuhause mehr. Jedenfalls keines, in das sie zurückkehren konnte oder wollte. Sie wusste nicht, wohin sie gehörte und was sie tun würde, wenn ihre Reise endete. Als sich die erste Träne in ihrem Augenwinkel bildete, schluckte sie hart und versuchte, ihre Emotionen niederzuringen, doch es fiel ihr unendlich schwer.
Gegen Mittag lichtete sich der Wald. Es ging leicht, aber stetig bergauf. Der weiche Waldboden wich einem steinigen Untergrund, aus dem bald kaum noch ein Baum zwischen den Ritzen emporragte. Das helle Tageslicht, das nach zwei Tagen zum ersten Mal wieder an Elanes Augen drang, blendete sie. Das Wetter war gut und für einen Tag im Spätherbst erstaunlich mild. Der Himmel leuchtete nicht blau, sondern eher hellgrau und die Luft roch frisch und erdig. Elane sah sich um. Zum ersten Mal seit ihrer Landung auf
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