Jenseits von Feuerland: Roman
alles erzählen ließ, was Arthur erlebt hatte, allerdings nicht nur einmal, sondern immer wieder, weil er es zwischendurch vergaß. Noch schlimmer als mit der Vergesslichkeit seines Onkels umzugehen war es, mit Nora zusammen zu sein. Sie verbreitete mehr Düsterkeit als Gustav Hoffmann. Wenn sie auf diese steife Art durch die Halle oder das Esszimmer schritt, hatte Arthur das Gefühl, dass alle Lampen ausgehen würden und das ohnehin spärliche Sonnenlicht von dunklen Wolken abgeschnitten wäre. Vielleicht tat er ihr Unrecht, und dieses stete Grau, in dem das Haus festzustecken schien, wurde nicht von ihrer Anwesenheit, sondern vom Hamburger Regen bedingt. In jedem Fall wurde er das Gefühl nicht los, eine lächerliche Posse aufzuführen, die ohnehin jeder, wirklich jeder, längst durchschaut hatte. Er glaubte zu fühlen, dass sie ihn hasste, verstand nicht, warum, und stellte sich das Leben in Chile alsbald viel lichter, fröhlicher und abwechslungsreicher vor, als es in Wahrheit war. Auch die lange Reise über zwei Ozeane war im Rückblick stets ein lustiges Abenteuer, keine Tortur, und wenn überdies die vagen Erinnerungen an das Übel der Seekrankheit verblasst waren, drängte es ihn bald wieder auf ein Schiff. Dort ging ihm rasch auf, wie anstrengend die Reise war und welche Qualen die Seekrankheit mit sich brachte, doch dann war es zu spät. Erst mal in Valparaíso angekommen, entschied er, auch hier für längere Zeit zu bleiben, die deutsche Gemeinde zu besuchen, wo er einige liebgewonnene Freunde gefunden hatte und diverse Frauen ihn anbeteten, die leider allesamt mit Geschäftspartnern verheiratet waren, so dass er die Finger von ihnen lassen musste. Doch Besuche in den Hafenkneipen wie früher mussten entfallen, denn wo immer er auftauchte, wurde er mit Arbeit überschüttet.
Nicht nur, dass er wie versprochen Teilhaber von Heinrich Schmitzke geworden war, ihm zwölfeinhalb Prozent von dessen Nettoeinkünften zustanden – vor drei Jahren hatte er vor dem öffentlichen Notar der Stadt, Julio Cesar Escala, einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet – und er seitdem den Export und Import von dessen Ware überwachte. Obendrein hatte er einen gewissen Henry Sloman kennengelernt, kein Engländer, wie sein Name verhieß, sondern ein Reeder aus Hamburg, der seit Jahrzehnten in Salpeter investierte und dabei reich geworden war. Mittlerweile besaß er mehrere Salpeterlager in der großen Wüste im Norden Chiles, von wo aus Dünger in die ganze Welt verfrachtet wurde. Von Sloman dazu angespornt, hatte Arthur nach seinem Vorbild ebenfalls in ein solches Salpeterlager investiert und war nun häufig dort, um die Verladung des Düngers auf die Schiffe zu kontrollieren. Die anfängliche Faszination für das öde Land hatte längst nachgelassen. Wann immer er in die Atacama-Wüste kam, verfluchte er die Hitze und die Trockenheit nicht minder wie den Hamburger Nieselregen. Doch wie so viele andere, die es – nicht nur auf der Suche nach Salpeter, sondern auch nach Guano und Silber – hierherzog, war er gerne bereit zu schwitzen. Jahrzehntelang hatte die Wüste als verwunschener Ort gegolten, nun machte sie viele geschäftstüchtige Männer Chiles reich – auch ihn.
Je mehr Geld er verdiente, desto weniger Zeit hatte er, darüber nachzudenken, wie er es ausgeben sollte. Vor allem hatte er keine Zeit zu überlegen, ob er wirklich das Leben führte, das er sich gewünscht hatte, oder ob ihn nur sein Onkel und die ungewollte Heirat mit Nora dazu getrieben hatten. Wirklich unzufrieden war er nicht – mit den Jahren wuchs jedoch die Rastlosigkeit, die ihm alsbald jeden Ort verleidete.
Hier auf der Estancia fühlte er diese Rastlosigkeit zunächst nicht. Schon am ersten Morgen, als er sich wohlig streckte, schien der Tag wie blankgescheuert vor ihm zu liegen. Es fiel ihm keine einzige Aufgabe ein, die er unbedingt und sofort verrichten musste, und das war ein ebenso ungewohntes wie behagliches Gefühl. Natürlich hätte er nach Punta Arenas zurückkehren können, wo er sich zufällig aufgehalten hatte, als Balthasar verzweifelt nach Hilfe suchte, und von wo aus er schon am nächsten Tag nach Valparaíso hatte weiterreisen wollen, doch nun entschied er fürs Erste zu bleiben. Dass es etwas mit Emilia zu tun haben könnte, leugnete er jedoch entschieden, als Balthasar ihn darauf ansprach.
»Du bist froh, sie wiederzusehen«, stellte der alte Freund, den er im letzten Jahr nur sporadisch zu Gesicht bekommen hatte,
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