Jenseits von Feuerland: Roman
tot an Land geschafft.«
Emilia folgte seinem Blick und sah viele kleine Boote anlegen. Sie trugen etwas, was sie zunächst für Kisten hielt, dann aber, als sie näher kamen, als Leichensäcke ausmachte. Sie wurden nebeneinander auf die Mole gewuchtet. Nun verstand sie, warum so viele Menschen herbeigelaufen kamen, schreiend und heulend und voller Angst – sie wollten herausfinden, ob das Unglück auch Freunde und Verwandte getroffen hatte.
»Gütiger Himmel!«, stieß sie aus.
»Nun ja«, meinte der Mann, »machen Sie sich keine Sorgen. Das Schiff kam von Valparaíso. Ich denke nicht, dass viele Leute von hier mitgefahren sind.«
Emilia erstarrte, und ihr war, als würde ihr der Schlag einer eisigen Faust versetzt werden.
Arthur … Arthur sollte mit einem Schiff von Valparaíso kommen.
Lächelnd beobachtete Rita, wie Balthasar Aurelia beizubringen versuchte, Schafe einzufangen. Auf der freien Weide war das alles andere als leicht, und Balthasar gelang es selbst nur mit Mühe. Am besten, man nutzte einen Fanghaken oder die Schäferschippe, doch auch wenn man auf diese Weise ein Schaf geschnappt hatte, entwischte es oft bei der erstbesten Gelegenheit. Man musste es sehr gut festhalten, indem man es mit der einen Hand an Hals oder Kopf hielt, mit der anderen am Schwanzansatz und zugleich das Knie im Bereich der Weiche leicht gegendrückte. Keinesfalls durfte man die Schafe an den Ohren halten.
Bis jetzt hatte Balthasar vergeblich versucht, das alles zu demonstrieren, und am Ende ging er resigniert auf ein Mutterschaf zu, das alle die träge Rosa nannten. Warum es ausgerechnet Rosa hieß, wusste Rita nicht, aber träge war dieses Schaf allemal – und das einzige, das sich ganz schnell einfangen ließ, so auch jetzt.
Bis jetzt war Aurelia immer enttäuscht gewesen, wenn Balthasar ein Schaf entwischte – nun aber klagte sie, dass es so mühelos gelungen wäre.
»Du hast gesagt, dass es schwierig ist!«, rief sie. »Aber das ist es gar nicht.«
»Die träge Rosa ist eben ein besonders gutmütiges Schaf«, meinte er. »Und vor allem ist es satt. Mit satten Schafen ist leichter umzugehen als mit hungrigen. Deswegen sollte man als Erstes ihren Hunger stillen, ehe man sie zu fangen versucht.«
Aurelia schüttelte ernst den Kopf. »Aber wenn man sie zum Scheren einfängt, dürfen sie keinen vollen Magen haben – sonst wird ihnen übel.«
Balthasar zuckte die Schultern: »Da hast du auch wieder recht.«
»Also, zeigst du es mir jetzt, wie man ein besonders widerspenstiges Schaf einfängt? Vielleicht sogar einen Bock?«
»Du weißt aber schon, dass besonders die Böcke sehr gefährlich sein können.«
Aurelia nickte fasziniert. »Wenn ein Bock auf einen losgeht, hat Ana mir gesagt, dann muss man ihm mit der flachen Hand über die Augen oder die Ohren schlagen. Schläge auf die Stirn spürt er nämlich nicht.«
Rita war sich nicht sicher, wer von den beiden mehr von den Schafen verstand – Aurelia oder Balthasar. Nach und nach hatten sie sich beide ihr Wissen angeeignet, und wenn es auch bei weitem noch nicht an das von Ana und Emilia heranreichte, so wussten sie mittlerweile wahrscheinlich mehr als sie, die sie doch so froh war, wenn sie sich ausschließlich ihrer Wolle, ihren Stoffen und dem Leder widmen konnte.
Das hatte sie immer gerne getan, aber seit Cornelius’ Besuch ging es ihr noch leichter von der Hand. Früher hatte sie dabei jeden Gedanken an ihren Vater und an ihre Großmutter eisern zu vermeiden versucht – jetzt hatte sie oft das Gefühl, ihnen mit dieser Arbeit Respekt zu erweisen.
Erst gestern hatte sie mit Marils Hilfe einen Quillango hergestellt: Aus ganzen vierzehn Guanakohäuten bestand er, und zwar nur aus solchen von Jungtieren. Nur ausgewählte Teile, nicht deren ganze Haut ließ sich verwenden: Die Haut des Halses war sehr zäh und bestenfalls für Schnüre geeignet. Die Rückensehne wiederum war ein gutes Material, um daraus Nähte zu machen. Die übrigen Teile waren jedoch weich – nicht ganz so weich wie Schafwolle zwar, aber prächtig anzusehen und im Winter sehr warm.
Rita entfernte sich langsam von der Koppel, während Aurelia und Balthasar nun nicht länger damit beschäftigt waren, Schafe einzufangen, sondern die vielen Hunde bändigten, die kläffend zwischen ihren Beinen herumwuselten. Sie waren noch Welpen – die Leithündin hatte sie erst vor wenigen Monaten geworfen, aber einer der Schotten behauptete, man solle sie von klein auf an die Schafe und ihre
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